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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Autoren: Richard Weisberg
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diskutierbar machten. War die grundlegende Prämisse des Rassismus erst einmal stillschweigend akzeptiert, konnte die Kasuistik juristischer Rhetorik so einfach angewendetwerden, als handele es sich um einen Grundstücksvertrag oder einen Autounfall.
    Ungefähr hundert Jahre früher hatten auch amerikanische Juristen und Gesetzgeber versäumt, eine verrottete, rassistische Struktur direkt anzugehen. Doch kennzeichnete sich das Haennig-Syndrom durch den merkwürdigen Aspekt, eine derartige Struktur ohne jeden offensichtlichen historischen oder wirtschaftlichen Grund bereitwillig zu akzeptieren. Frankreich weidete sich an den rassischen Möglichkeiten, die ihnen der fremde Eroberer ins Land gebracht hatte. Durch die Reaktion der französischen Kultur unter deutscher Besetzung schälte sich die Angelegenheit als paneuropäisches Dilemma heraus; der westliche Egalitarismus und der Liberalismus begrüßten die Ächtung von Rassen und letztendlich den Genozid mit mehr Enthusiasmus, als dies in den anscheinend neobarbarischen und tief romantischen germanischen Staaten der Fall war. Die Implikationen für die gesamte westliche Kultur einschließlich Amerika ließen sich nicht leugnen.
    Auch in der literarischen Gemeinde Frankreichs führte die Anwesenheit des Hunnen zur Freisetzung vieler Bände veröffentlichter und ausgesprochener Worte. Und auch in diesem Fall wurden die virulenten Antisemiten wie Céline und Brasillach nach dem Ende des Wahnsinns nie als Repräsentanten französischer Kultur betrachtet. Aber die alltägliche Kollaboration weniger auffälliger Autoren und Verleger, die vom Schauspiel der Razzien des Jahres 1942 oder der Ächtung nicht arischer Künstler weitgehend ungestört blieben, führte zu Unklarheiten, die noch mehr Rätsel aufgaben als die Texte, die daraus entstanden. Simone de Beauvoir, deren Karriere florierte, hatte ein – nach ihren Worten politisch neutrales – beliebtes Programm im Vichy-Rundfunk. Der Terror in den Straßen ließ diejenigen ungerührt, die das Glück hatten, den umjubelten Pariser Premieren von Sartres Les Mouches und Huis clos beizuwohnen.
    Recht und Literatur, die wichtigsten Stützen einer modernen, genormten europäischen Sprache, verbogen sich und brachen schließlich unter den Stiefeln der Faschisten. Zu Fragen, die von der europäischen Kultur früher als exzentrisch und widerlich befunden worden wären, ergoss sich ein endloser Strom ernsthafter Diskussionen. Viele Karrieren von Juristen und Künstlern gingen unverändert weiter; nicht wenige blühten auf.
    Was Friedrich Nietzsche vorhergesehen hatte, ein Europa, das von Menschen voller gewaltsamer Ressentiments bevölkert wurde und zum Tode krank war, kam in Sicht- und Hörweite, und das mit der Unterstützung von Männern und Frauen mit außerordentlichen sprachlichen Talenten. Ihre passive oder aktive Beteiligung hat für die kommenden Generationen nichts weniger als die Sprachen und Organisationsstrukturen ihrer diversen Betätigungsfelder in Misskredit gebracht. Haennigs Aufsatz, der in der Gazette du Palais , der traditionellen Zeitschrift für französisches Recht, veröffentlicht worden war, macht die Alltagsrhetorik seines Berufsstands problematisch. Und Sartres Nachkriegsphilosophie (wie Heideggers vor dem Krieg erschienenes Werk Sein und Zeit ) scheint den Makel seiner komfortablen Karriere während der Besatzungszeit zu tragen.
    Die Problematik europäischer Werte – ihr Umkippen im Holocaust und die Suche nach Ersatz – reicht weit über Einzelpersonen und sogar die speziellen Institutionen hinaus. Dostojewski stellte sich diese Fragen wie sein Bewunderer Nietzsche schon zwei Generationen vor dem Fall. Auch er erkannte – freilich aus der Perspektive einer Kultur, die noch hoffte, ihre eigenen, nicht westlichen Werte zu finden –, dass sich das Christentum in großer Bedrängnis befand. Vermittelt durch seine intellektuellen und juristischen Figuren sagte Dostojewski die brutale Kraft fehlgeleiteter Wörter, die Grausamkeit der Sprache und der Formen voraus, die von geistig-seelisch hohlen Individuen geschaffen würden.
    Und in der Tat zeigt sich in der modernen Literatur verschiedener nationaler Kulturen der Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs in den Schriften von ansonsten recht unterschiedlichen Autoren ein sehr stark selbstkritisches Interesse an verbaler Falsifizierung. Protagonisten mit ansonsten makellosen intellektuellen Referenzen bemühen sich, die Realität mit narrativem Sinn
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