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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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M ein kleines Werk soll eine Lücke füllen. Als ausübender Armer bin ich schon lange auf der Suche nach einem Handbuch, einer Art Gebrauchsanweisung für die Armut, nach einem Wegweiser, wie man diesen Zustand mit Würde und ohne besondere Erschütterung des Nervensystems ertragen kann, einem Ratgeber für Menschen mit geringem Einkommen in kritischen Lebenslagen. Mir schwebte so etwas wie ein abgewandeltes Anstandsbüchlein vor, das den Armen in einfacher und praktischer Manier darüber belehrt, wie er sich den oberen Gesellschaftsschichten gegenüber verhalten soll, wie er zu lächeln, sich zu erheben, sich zu setzen, zum Tanz zu bitten, Kartoffeln zu schälen, sich vorzustellen oder die Senkgrube zu putzen hat, ohne besondere Formfehler zu begehen und ohne die Kritik der feineren Welt herauszufordern.
    Bei genauer Beobachtung werden wir feststellen müssen, daß die Armen nicht nur ungeschickt leben, sondern sich auch schlecht benehmen. Ihre Manieren sind manchmal unerträglich, ihre Lebensformen denkbar primitiv, ihre Vergnügungen ohne Maß und Ziel. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre zum Beispiel Knigges »Über den Umgang mit Menschen« auch heute noch ein vorzügliches Handbuch, hätte dieser populäre Autor in seinem Werk nicht jene nebensächliche und unbedeutende, jedoch zweifelsohne der Betrachtung würdige soziale Tatsache vergessen, nämlich daß die Menschen im allgemeinen kein Geld haben. Den gleichen auffallenden Fehler weisen auch andere vorzügliche Werke der Literatur auf, die den Umgang mit Menschen behandeln. Unter anderem ist es mein Ziel, Menschen, deren Einkommen dreihundertvierzig Pengö nicht erreicht – mit anderen Worten neun Zehntel der Menschheit –, taktvoll, aber entschieden auf die elementaren Gesetze des kultivierten Lebens und deren Auswirkungen aufmerksam zu machen, denn es ist kaum noch mit anzusehen, wie unmanierlich die Welt infolge ihrer Armut geworden ist. Dies wäre ein Ziel meines Buches.
    Im Rahmen meiner Ausführungen bin ich nicht in der Lage, mich mit so einfältigen und fruchtlosen Theorien wie der Frage, ob unsere Zivilisation in den letzten Zügen liegt oder ob unsere Wirtschaftsordnung am Ende ihrer Kunst ist, zu befassen, denn mein Buch ist so kurz wie das Leben, auf das wir unser Hauptaugenmerk richten wollen; die theoretischen Bedenken überlassen wir lieber jenen traurigen Menschen, die sich damit berufsmäßig beschäftigen, nämlich den Nationalökonomen und den Kulturphilosophen.
    Vorausgesetzt, daß sich die Armut gleich einer Epidemie oder einem mittelalterlichen Aberglauben in unserem Zeitalter ganz gewaltig verbreitet hat und neben dem gewerbsmäßigen und behördlich lizenzierten Bettlertum immer neue und andere Gesellschaftsschichten in ihre Kreise zieht, halte ich ein Handbuch geradezu für eine Notwendigkeit, um die überraschten, hinterrücks Angegriffenen und in die Kasematten der Armut verschleppten Neuarmen, die ihre plötzlich veränderte Lage in ihrem ersten Entsetzen weder begreifen noch mit Haltung tragen können, wie etwa die Neureichen, über das wahre Wesen ihrer Situation und über die möglichen Lebensfreuden, soweit sie in den Kasematten noch in Betracht kommen, aufzuklären. Das wird kein leichtes Unternehmen sein.
    Beim Studium der Kirchenväter und der Bücher der Heiligen konnte ich weder Trost noch Befriedigung finden, denn sie loben und preisen die Armut, während mich die Armut anekelt – wenigstens meine eigene Armut –, und zudem finde ich diesen Zustand unsagbar langweilig. Ich hasse übrigens die Langeweile in jeder Form, erinnert sie mich doch an den Tod, den ich verachte; und ganz besonders hasse ich die Langeweile dann, wenn sie sich mir im traurigen Gewand der Armut nähert und mir ihren faulen Atem ins Gesicht haucht.
    Ich leugne nicht, daß die Religion ein gewaltiger Trost und in gewisser Weise ein Heilmittel gegen die Armut bedeutet, besonders wenn wir unser Augenmerk ständig auf den himmlischen Lohn richten und uns um all das, was mit uns hienieden geschieht, nicht kümmern. Ich selber bin ein tief religiöser Mensch, und darum überrascht es mich, daß ich mich dennoch seit meiner Geburt hier auf Erden langweile, denn ich bin seit dem Augenblick meiner Geburt arm. Diesen Zustand, von dessen Unabänderlichkeit ich überzeugt bin, habe ich zeitweise als unerträglich empfunden und bin gleich dem verzweifelten Miklos Zrinyi mit hundert Goldstücken in der Tasche aus der belagerten Festung der Armut ausgebrochen
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