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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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genau, daß man sich über die sein ganzes Leben durchdringende unverkennbare dichterische Haltung nicht zu wundern braucht.
    Bekanntlich leben die Armen wie in einer anderen Welt und gehen ihre eigenen Wege, die die Reichen selten und dann nur aus ganz bestimmten Gründen betreten. Das Klima dieser Bezirke ist beherrscht vom Unglück, vom beständigen Unglück, das mit seiner frostigen Dämmerung ein wenig an das kühle Nordlicht erinnert.
    Dafür gibt es verschiedene Beispiele. Dostojewski läßt einen jungen Mann in »Schuld und Sühne« tief unglücklich wegen seiner Armut sein. Ich selber empfand schon öfter meine Armut als ein großes Unglück: so einmal in Heidelberg am 8.   Februar 1923 und ein anderes Mal auf französischem Boden, in Nancy, im Zimmer eines übelberüchtigten Hauses gegen halb zwei Uhr in der Nacht; aber auch bei anderen Gelegenheiten, wie es meine Aufzeichnungen beweisen. (Charles Louis Philipp, der vorzügliche Kenner der Armut, beschreibt einen Fall, bei dem ein Mensch vor lauter Unglück und Armut wochenlang unfähig war, die Straße zu betreten.)
    Bei Untersuchung der Armenarten stoßen wir sofort auf zwei Hauptgruppen, und zwar auf die große Familie der ausübenden und auf die der geduldeten Armen, welch letztere in gewissen Gegenden des Fernen Ostens auch »Unberührbare« genannt werden. Die Armen sind in Gegenden auffindbar, die von zur malaisch-polinesischen, teils zur ural-altayer, zum kleinen Teil der khamitisch-semitischen und dann wieder zum großen Teil von zur indogermanischen Sprachgruppe gehörigen Völkern bewohnt werden. Neuerdings fand man auch Arme auf dem Gebiet der amerikanischen Sprachengruppen (siehe Upton Sinclair), doch bedarf diese Entdeckung noch einer wissenschaftlichen Bestätigung.
    Wie wir sehen, verteilen sich die Armen auf sehr viele Sprachengebiete; der italienische Statistiker Balbi und der deutsche Sprachforscher Pott schätzen die von ihnen gesprochenen Idiome auf 960, während nach dem Schweizer Psychiater Max Müller selbst die Zahl 900 unwahrscheinlich klingt. Schon dieser eine Umstand beweist, wie schwer es dem Reichen fällt, sich ein genaues Bild von den Armen zu machen, der Reiche spricht nämlich, besonders in der Öffentlichkeit, neben seiner Muttersprache nur zwei fremde Sprachen: Englisch und Französisch, und meist alle drei nur fehlerhaft und gebrochen.
    Es ist auffallend, wie gut die Armen ihre Muttersprache beherrschen. Außer den 900 Idiomen bedienen sie sich auch einer esperantoartigen eigenen Sprache, die man kurzweg als die Armensprache bezeichnen könnte. Diese Sprache ist von einer dürftigen Einfachheit, die Konjugation ist primitiv, Deklination gibt es kaum, Geschlechtswörter überhaupt nicht, dagegen besitzt sie den großen Vorteil, überall in der Welt verstanden zu werden. Sie stellt in ihrem Aufbau ein Mittelding dar zwischen den agglutinierenden und den flektierenden Sprachen. Ihr Wortschatz ist gering, jedoch von treffendem und nicht mißzuverstehendem Bilderreichtum.
    Die Armensprache kennt bezeichnenderweise keine Vergleiche und nennt alles bei seinem richtigen Namen. Wenn ein Armer das Wort »Brot« ausspricht, so versteht er nichts anderes darunter als das aus Weizen oder Roggen hergestellte, von ihm als zweckmäßigstes Nahrungsmittel erkannte Produkt der Backkunst; wenn er sagt »Brot verdienen«, so denkt er tatsächlich an Brot, das er sich verdienen muß, im Gegensatz zum Reichen, dessen Morgenseufzer: »Na, gehen wir unser Brot verdienen«, etwas ganz anderes bedeuten kann, vielleicht daß er bis zum Ende des Tages dreitausendvierhundert Pengö oder eine Speisezimmereinrichtung verdienen will. Wenn der Arme das Wort »Leben« ausspricht, so will er einen abgeschlossenen Zeitraum bezeichnen, sagen wir einige Stunden, von früh bis abends, eine kurze Spanne Zeit, die er lebend zu verbringen hat, und zwar unter bestimmten Bedingungen. Der Reiche jedoch versteht unter dem Wort »Leben« eine Reise, Sonnenschein oder Schatten, wozu er eben Lust hat, was er haben möchte oder wonach er sich sehnt. Der Arme versteht immer etwas Objektives darunter: etwas Tatsächliches.
    Wenn zwei Arme sich treffen, so verstehen sie sich, auch ohne ein einziges Wort auszusprechen, lediglich durch eine Geste, oft genügt sogar ein verständnisvoller Blick. Geradezu verblüffend gut haben die Armen der Welt es gelernt, sich untereinander zu verständigen. Dies weiß man auch bei der Polizei – man beobachtet sie vorsichtig und ohne
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