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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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der Zuschauer eine Nummer im Zirkus. Eine Blinddarmentzündung, die Untreue der Geliebten, den Tod eines Freundes, den Zusammenbruch einer abgöttisch verehrten Idee, etwa die Lockerung des Autoritätsprinzips, oder aber die Entwertung einer für prima gehaltenen mexikanischen Ölaktie empfindet er als ein gegen seine Person gerichtetes Attentat, sozusagen als ein Privatissimum – und mit Recht. Das Bewußtsein seiner Auserwähltheit erlaubt ihm nicht, seine Nierenentzündung mit den Millionen und Millionen von tagtäglich in der ganzen Welt diagnostizierten Nierenentzündungen gleichzustellen. Ähnlich wie der Dichter betrachtet der Reiche die Welt wie für seine Zwecke geschaffen. Er feiert geräuschvoll das seltene Ereignis des Unglücks, beruft eine Versammlung, um es zu besprechen, und würde am liebsten ein Gedicht oder einen Artikel schreiben lassen wie über ein welterschütterndes Ereignis. Manchmal tut er es sogar.
    Der Arme dagegen schwimmt im Unglück wie ein Fischchen im Tümpel, und es ist, vom biologischen Standpunkt aus betrachtet, interessant zu beobachten, wie er sich mit der Zeit den Lebensbedingungen des Unglücks anpaßt, neue Organe entwickelt, sozusagen seelische Kiemen, die es ihm als Säugetier gestatten, im Unglück zu atmen. Da das niedrigste Lebewesen ebenso wie das höchstentwickelte, mit anderen Worten der Wasserfloh wie auch meinetwegen der Präsident der Bank von England, als einziges Lebensziel die Befriedigung kennt, dürfen wir nicht übertreiben und das Problem so darstellen, als ob für den Armen innerhalb dieser Daueratmosphäre des Unglücks die Befriedigung unmöglich wäre. Allerdings findet der Arme manchmal auf seine eigene Weise Befriedigung, aber immer auf Kosten seines Glücks und in den Grenzen seiner Möglichkeiten.
    Das Unglück ist dem Armen so sehr zur Gewohnheit geworden und er hat sich dermaßen damit abgefunden, daß er es nicht mehr bemerkt oder gar als schmerzlich empfindet – er lebt darin wie der Londoner im Nebel, der sich dennoch ausgezeichnet zu orientieren vermag und selbst in der dunkelsten Nacht nach Hause findet.
    Das Unglück, da wir nun einmal in diesen Zustand hineingeboren sind, ist nicht viel auffallender oder überraschender als der Lebensprozeß selbst. Der Arme speist mit gutem Appetit zu Mittag und ist gleichzeitig unglücklich, dann schläft er auf dem Sofa inmitten seines Unglücks ein halbes Stündchen oder beschäftigt sich unglücklich, aber intensiv mit seiner kleinen Freundin, arbeitet und verdient sein Geld in allem Unglück. Abends sitzt er unglücklich im Kino oder in der Kneipe und stirbt eines Tages ebenso unglücklich, ohne daß er je sein Unglück, welches keinen Augenblick aufgehört hat, die Atmosphäre seines Lebens zu sein, besonders beachtet hätte. Wie auch im Fegefeuer – welches keine besonderen Schmerzen verursacht, nur sehr lang währt und nicht so sehr in seinen Auswirkungen als eher seinem Wesen nach unerträglich erscheint – die Seelen ihre menschlichen Eigenschaften bewahren, so kann man inmitten allen Unglücks ganz gut leben, kegeln, schwatzen und Witze zum besten geben.
    Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß das Unglück zu den subtilsten Seelenzuständen gehört, die einem zuteil werden können. Die Dichter, die man mit vollem Recht als die edelsten Menschen in der Welt bezeichnet, machen, ohne Geld und Mühe zu sparen, geradezu Jagd auf das Unglück, denn ihre herrlichsten Schöpfungen, und damit die einzige Möglichkeit, sich vollkommene Befriedigung zu verschaffen, verdanken sie den seltenen Augenblicken großen Unglücks. In diesem Sinn und dank des lebenslang eingeatmeten systematischen Unglücks ist auch die Existenz des Armen von einer undefinierbaren feinen Poesie durchdrungen. Diese Inspiration kommt jedoch den Armen selten zum Bewußtsein, die große Wäsche, die Tuberkulose und das Steineklopfen läßt ihnen keine Zeit zur Besinnung. Die poetische Stimmung jedoch, die ihre Zimmer, die Gegenden, die sie bewohnen, und ihre Zusammenkünfte umweht, verleiht dem Leben der Armen einen seltsam wunderlichen Zauber und bannt sie unweigerlich in die magnetischen Kreise der schwebenden, hauchleichten dichterischen Phantasie.
    Jeder Reiche, der nur einen einzigen Tag im Leben der Armen aus nächster Nähe genau verfolgt hat, wird dies verstehen und sich mit Sehnsucht daran erinnern. Aus all dem ergibt sich, daß die Armen im allgemeinen viel feinere Menschen sind als die Reichen. Die Armen sind meist
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