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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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von zurückhaltender und stiller Natur. Gleich den wahren Dichtern bleiben sie – wie die Klassiker – im Gespräch, ohne viele Worte zu verlieren, beim Kern der Sache. Die Reichen dagegen sprechen viel und noch mehr Überflüssiges, oft nur, um sich selbst sprechen zu hören, und diese zur künstlichen Vollkommenheit getriebene Geschwätzigkeit nennen sie »Konversation«.
    Der Arme »konversiert« nie. Niemand hat je gehört, daß man von einem Badezimmerinstallateur gesagt hätte, er sei ein »ausgezeichneter Causeur«. Der Arme sagt immer nur das Notwendigste, und diesen feinen Zug in seinem Wesen können nur die Dichter richtig bewerten, die ebenfalls nach Knappheit im Ausdruck und nach verinnerlichter Objektivität streben. Die Armut aber ist, obwohl zweifelsohne gottbefohlen, auch gleichzeitig ein physischer Zustand. Das Unglück ist das Kennzeichen dieses physischen Zustands, ebenso wie bei der Frau die von ihr ausstrahlende geschlechtliche Anziehungskraft ihren eigentlichen Zauber ausmacht.
    Und wie bei gewissen Naturphänomenen forscht man auch vergebens nach den Ursachen des Unglücks, man erkennt sie nur an ihren Auswirkungen, wie bei der Elektrizität, ohne je die eigentliche Natur der Erscheinung erklären zu können. Es wäre auch schwierig zu erklären, warum die Armen so unglücklich, so beharrlich und begeistert unglücklich sind. Vielleicht nur darum, weil sie arm sind. Vielleicht nur deshalb, weil sie leben müssen.
    Die streng wissenschaftliche Methode, die wir in unserer Betrachtung anwenden, verbietet uns, mittels Hypothesen Phänomene zu erklären, darum geben wir es lieber auch auf, eine Ursache für das Unglück der Armen anzugeben, und begnügen uns mit der einfachen Feststellung der Tatsache. Darauf kommt es ja eigentlich an. Einer der grundlegenden Gedanken unserer Aufzeichnungen ist, daß der Arme immer aus einer konstanten, sozusagen gasartigen Atmosphäre des Unglücks heraus handelt, die leichter ist als Sauerstoff. Während der Reiche das Unglück als eine gelegentliche und persönliche Katastrophe betrachtet, bewegt sich der Arme frei und häuslich darin, wie unter einem höheren Schicksal.
    Es lohnt sich zu beobachten, mit welcher gewählten, verinnerlichten Aufmerksamkeit sich die Armen in ihr Unglück versenken können. Sie widmen sich dem Unglück mit beschwingter und empfänglicher Seele, gleichsam wie einer Andacht oder einer religiösen Übung. Ich kenne mehrere Arme, die sich, wie sehr empfindliche Medien in Trance, innerhalb einiger Augenblicke in den Zustand des allergrößten Unglücks versetzen können.
    Du siehst das folgende Bild: Ein Armer sitzt steif auf seinem Sessel, sagen wir auf der Kaffeehausterrasse, vor ihm auf dem Tisch ein Glas Wasser und Zeitungen, ein Autobus fährt vorbei; der Arme blickt unverwandt auf das Glas Wasser, schließt auf einen Moment die Augen und verfällt sogleich in die magnetische Starre des Unglücks dritten Grades. Jetzt ist er vollkommen unempfindlich für die Geschehnisse der Umwelt, genauso wie ein Medium in Trance; wenn du ihn ansprichst, so sieht er dich mit leerem Blick an, wenn du es ihm befiehlst, steht er auf, verbeugt sich stumm, wiederholt deine Worte und setzt sich dann wieder auf seinen Platz; das Unglück fesselt seinen Willen, sein Blick bleibt leer, und vergebens machst du ihn auf die praktischen und aufregenden Weltereignisse aufmerksam, etwa auf den Dollarkurs in Helsinki oder darauf, daß ein Reicher sich eine neue, noch viel schönere Freundin gekauft hat als die vorige – die Worte dringen nicht bis in sein Bewußtsein, er sitzt inmitten seines Unglücks, unnahbar wie in einem Vakuum.
    Für den talentierteren Armen ist die kleinste Gelegenheit schon ein guter Grund, unglücklich zu sein: eine Schaufensterauslage, irgendein blinkender Gegenstand, ein Plakat oder der Flug eines Vogels, Dinge, die seine Aufmerksamkeit fesseln, ihm die Welt in Erinnerung bringen und Ursache genug sind, um ihn in den Zustand des Unglücks zu versetzen. Einzelne atmen das Unglück ein wie den Opiumrauch und schlendern dann mit verträumtem Blick und wachsbleicher Stirn schläfrig umher.
    Diese Menschen leben nur in den Minuten bewußten Unglücks, und gleich vornehmen Geistern erkennen sie dann, daß alles wirklich Lohnende ihnen gehört: das nicht Existierende, das Unerreichbare. Der Arme spürt dies mit erstaunlicher Sicherheit und fein abgestimmten Sinnen aus eigener Erfahrung, und er kennt auch den Begriff des »Unerreichbaren« so
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