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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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Zustand ist ihr anscheinend so zur zweiten Natur geworden, daß sie sogar von Zeit zu Zeit Revolutionen entfacht und Massenmorde veranstaltet, um die Institution der Armut noch unbedingter und allgemeiner zu verankern.
    Ob die großen Menschenmassen in hundert Jahren so arm sein werden wie vor hundert Jahren, darüber kann man in Kursen für berufsmäßige Propagandaredner oder in literarischen Salons debattieren, einen vernünftigen Menschen jedoch, der es wagt, der Wahrheit unerschrokken ins Gesicht zu blicken, interessiert diese Frage so wenig wie die Diskussion von Geologen über das Thema, ob der Spiegel des Pazifischen Ozeans in tausend Jahren um zehn Zentimeter höher oder niedriger liegen wird. Der menschliche Ozean wird, wie immer das bestehende Wirtschaftssystem auch heißen mag, ganz bestimmt auf dem gleichen Niveau der Armut verharren. Vom moralischen Standpunkt aus beurteilt, gibt es nichts Natürlicheres als diese Feststellung.
    Ein alter Herr von ausgezeichneter Beobachtungsgabe machte mich einst in einem Café in Buda darauf aufmerksam, daß die Tiere auch arm sind. Wie jede Wahrheit machte mir auch diese einfache Feststellung klar, daß man nach dem Geheimnis der Armut nicht im Wörterbuch abgeleierter Theorien, sondern in der Wirklichkeit suchen muß. Verblüfft stellen wir dann aber fest, wie sehr sich die wirkliche Natur der Dinge vom Wunschbild unserer Einbildung unterscheidet. Wenn wir uns überlegen, daß es, abgesehen von den Ameisen, den Bienen und den Termiten, in der ganzen Welt kein anderes Lebewesen gibt, welches die Hortung von Gütern als Lebensaufgabe betrachtet und sich an den Besitz der durch Fleiß, Arbeit, List oder Gewalt erworbenen Güter klammert, dann wird uns eindeutig klar, daß die Armut der natürliche Zustand der Geschöpfe ist und daß selbst die obenerwähnten Insekten nur unter dem Zwang einer langweiligen Gesellschaftsordnung ihre monotone Tätigkeit ausüben.
    Es ist schwer vorstellbar, daß zum Beispiel die Kraft und Energie eines Löwen, die Skrupellosigkeit einer Hyäne oder die Blutgier eines Wolfes nicht Schritt halten könnten mit den Eigenschaften eines mittelmäßig begabten fünfzigjährigen zuckerkranken Lederfabrikanten, wenn sie ein Vermögen zusammenraffen wollten. Sie wollen aber nicht, und darauf kommt es an. Nicht einmal die Hyäne, dieses niedrigste aller Tiere, bekanntlich vom Aas lebend, denkt im Traum daran, daß man aus dem Fett der toten Tiere Seife sieden und durch den Handel mit dieser Seife reich werden könnte.
    Diese vollkommene Gleichgültigkeit der Hoch- und Niedergestellten in der Tierwelt dem Besitz gegenüber wird jeden denkenden Menschen davon überzeugen, daß die Armut – gleich der Luft, die sie atmen – die natürliche Atmosphäre aller Lebewesen ist. Wer hat je von einem Königstiger gehört, der auf die Nachricht hin, daß seine Aktien an der Frankfurter Börse einen Kurssturz erlitten haben, Selbstmord beging, oder von einer Hyäne, die sich aus Verzweiflung aufgehängt hat, als sie eines Tages bemerkte, daß ein Mißgünstiger den von ihr mit sorgsamer Voraussicht vergrabenen Antilopenkadaver in der Nacht herausgescharrt und verschleppt hat? Der Elefant im Tiergarten nimmt zwar die ihm dargebotenen Kupfermünzen an, trompetet sie aber mit einer verächtlichen Gebärde gleich wieder vor die Füße seines Wärters.
    Die Tiere, die gleich Menschen die Fähigkeit in sich tragen, ein Vermögen zu erwerben, verachten aufgestapelte Güter. Diese nicht zu leugnende und auffallende Erscheinung mahnt bei der Analyse der menschlichen Armut und des Reichtums zu einer gewissen Vorsicht.
    Wenn wir auch die Armut als den natürlichen, wahren und ewigen Zustand der Lebewesen betrachten, so wäre es geradezu albern zu behaupten, die Armut sei etwas Gutes oder ein angenehmer und beglückender Zustand. Selbst das Leben ist nichts besonders Gutes und das Glück schon gar nicht der Endzweck des Seins, eine Ansicht, zu der sich auch Rilke bekannte. »Es ist wirklich nicht wichtig, glücklich zu sein.« Um so weniger kann das Glück der Endzweck der Existenz sein, als diese überhaupt keinen Endzweck hat. Die Armut ist ein ebenso zweckloser, selbstbedingter Zustand wie das Leben, dessen Produkt sie ist.
    Nur ganz simple oder von Fanatismus verblendete Menschen können verkünden, die Armut sei die unmittelbare Folge des im allgemeinen gierigen, gewalttätigen und rücksichtslosen Verhaltens der Reichen gegenüber den Armen. Eine der schädlichen
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