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Schneller als der Tod

Schneller als der Tod

Titel: Schneller als der Tod
Autoren: Josh Bazell
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auf der Schwelle zwischen Wohn- und Esszimmer. Genau gesagt lag meine Großmutter, die einen Schuss in die Brust bekommen hatte, im Wohnzimmer auf dem Rücken, und mein in den Bauch geschossener, vornübergefallener Großvater lag mit dem Gesicht nach unten im Esszimmer. Mein Großvater hatte die Hand auf dem Arm meiner Großmutter.
    Sie waren schon einige Zeit tot. Das Blut im Teppich verklebte mir die Schuhe und später, als ich mich hineinlegte, das Gesicht. Ich machte den Notruf, bevor ich mich zu ihnen legte und meinen Kopf zwischen die ihren bettete.
    In meiner Erinnerung sehe ich das Ganze in lebhaften Farben, was deshalb interessant ist, weil wir, wie ich jetzt weiß, bei schwachem Licht in Wirklichkeit keine Farben sehen. Unser Verstand stellt sie sich vor und malt sie hinzu.
    Ich weiß, dass ich die Finger in ihre grauen Haare gesteckt und uns alle zueinander hingezogen habe. Als die Rettungsleute schließlich kamen, mussten sie mich wegziehen, damit die Polizei Bilder vom Tatort machen und der Bestatter die Leichen mitnehmen konnte.

    Die besondere Ironie der Geschichte meiner Großeltern besteht darin, dass sie fünfzig Jahre vorher einen viel aufwendigeren Versuch, sie umzubringen, überlebt hatten. Der Legende nach hatten sie sich 1943 im Bialowiezer Wald in Polen kennengelernt, als sie fünfzehn waren, kaum älter als ich an dem Tag, als ich sie tot auffand. Mit einer Gruppe von anderen wild lebenden Teenagern hielten sie sich im Schnee versteckt und bemühten sich, die einheimischen Judenjägertrupps so weit zu dezimieren, dass die Polen sie in Ruhe ließen. Was das genau hieß, erzählten sie mir nicht, aber es muss ziemlich heftig gewesen sein, denn 1943 hatte Hermann Göring eine Jagdhütte am Südrand von Bialowieza, wo er und seine Gäste sich als römische Senatoren verkleideten, und sicher war er über die Lage informiert. Im selben Winter verschwand in Bialowieza auch ein versprengter Zug aus Hitlers 6. Armee auf dem Weg nach Stalingrad. Wo sie allerdings sowieso umgekommen wären.
    Meine Großeltern wurden schließlich durch eine List gefasst. Irgendwie erfuhren sie durch einen gewissen Wladislaw Budek aus Krakau, dass der Bruder meiner Großmutter, der in Krakau als Spion für den Bischof von Berlin*
(Das war Konrad von Preysing alias »Der gute Deutsche«. Dreizehnmal wandte von Preysing sich wegen der Verfolgung und Vernichtung der Juden an Papst Pius XII., der 1941 erklärte, die Nazi-Politik stehe nicht im Widerspruch zu den Lehren der katholischen Kirche. Ich hoffe, wenn Pius heiliggesprochen wird, beruft man sich auf dieses Wunder.)
gearbeitet hatte, gefangen genommen und ins Krakauer »Ghetto« Podgorze gesteckt worden war, einen Sammelplatz an der Bahnstrecke zu den Lagern. Budek behauptete, den Bruder meiner Großmutter für 18 000 Zloty oder was immer sie damals für eine Währung hatten, freikaufen zu können. Da meine Großeltern kein Geld hatten und ohnehin misstrauisch waren, fuhren sie nach Krakau, um die Lage zu peilen. Budek rief die Polizei und verkaufte sie nach Auschwitz.
    Es war typisch für meine Großeltern, dass sie es später als glückliche Fügung bezeichneten, nach Auschwitz gekommen zu sein, da es nicht nur besser gewesen sei, als von polnischen Knallköpfen im Wald erschossen zu werden, es sei auch besser gewesen, als in ein Vernichtungslager zu kommen.*
(Auschwitz hatte ein Vernichtungslager - Birkenau -, aber es hatte auch Monowitz, ein Zwangsarbeitslager. Damit standen die Chancen, in Auschwitz zu überleben, eins zu fünfhundert, und nur deshalb hat man überhaupt von Auschwitz gehört. In den Vernichtungslagern stand die Überlebenschance bei eins zu fünfundsiebzigtausend.)
In Auschwitz gelang es ihnen, zweimal durch Kassiber miteinander in Kontakt zu treten - und wenn man sie reden hörte, ließ es sich damit leicht bis zur Befreiung aushalten.

    Sie wurden nicht weit vom Haus meines Onkels Barry beerdigt. Das war der Bruder meiner Mutter, der ausgeflippt und orthodoxer Jude geworden war. Meine Großeltern hatten sich allemal als Juden betrachtet - sie hatten zum Beispiel Israel besucht und unterstützt und waren bestürzt darüber, wie schnell es von der Welt dämonisiert wurde -, doch Jude sein hieß für sie, bestimmte moralische und intellektuelle Verpflichtungen zu haben und nicht etwa, dass die Religion etwas anderes als ein blutbefleckter Hokuspokus war. Meine Mutter hatte aber schon sämtliche herkömmlichen Formen der Auflehnung durchprobiert,
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