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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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ist er immer noch ein Zugezogener!«
    Er lachte. Ari nicht.
    Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Aufs Land zu ziehen, in eine kleine Gemeinde, in der er vielleicht nie einer von ihnen sein würde?
    Die Strecke, die sie im letzten Abschnitt vor dem Tunnel zurücklegten, war anders als die meisten Wegabschnitte, die Ari je gesehen hatte. Sie fuhren einen Berghang entlang, wobei der Wagen auf der Straße nur wenig bis gar keinen Platz hatte, rechter Hand standen die schneeweißen Berge, prachtvoll und angsteinflößend zugleich, linker Hand ging es beängstigend steil direkt in den aufgewühlten Fjord hinunter. Ein kleiner Fehler oder ein unerwarteter Flecken Glatteis – und man hätte sich das weitere Szenario unschwer vorstellen können. Vielleicht war es Glück im Unglück, dass Kristín nicht mitgefahren war – er hätte sich ganz bestimmt Sorgen um sie gemacht, auf der Rückfahrt und so alleine unterwegs.
    Er spürte, wie die Unzufriedenheit in ihm schwärte, sobald er an Kristín dachte. Warum hatte sie sich nicht freigenommen und war mit ihm gekommen? War das zuviel verlangt?
    Er atmete auf, als sie schließlich den Tunnel erreichten, sie hatten es also heil bis dorthin geschafft. Es wurde allerdings eine kurze Freude. Er hatte einen modernen, beleuchteten, breiten Tunnel erwartet, aber der Tunnel, der sich vor ihnen auftat, hatte etwas Düsteres an sich. Er war einspurig und schmal, und man sah ihm deutlich an, dass ungefähr vierzig Jahre vergangen waren, seit er gebaut worden war. Von der Decke tropfte hier und dort Wasser, was das Ganze noch schlimmer machte. Ari empfand plötzlich ein Gefühl, von dem er sich nicht erinnern konnte, es jemals verspürt zu haben – Platzangst.
    Er schloss die Augen, versuchte, es von sich zu schütteln.
    Er wollte seine Bekanntschaft mit dem Dorf nicht auf diese Weise beginnen. Zwei Jahre lang sollte er dort leben, vielleicht sogar länger. Er war schon oft durch Tunnel gefahren, ohne dieses unangenehme Gefühl verspürt zu haben. War es vielleicht der Gedanke an diesen abgelegenen Fjord, der ihn dermaßen beeinflusste und nicht der Tunnel selbst?
    Er öffnete die Augen, und genau in diesem Augenblick fuhren sie im Tunnel aus einer Kurve heraus, und das Ende wurde sichtbar, der Ausgang. Sein Herz schlug wieder ruhiger, als Tómas sagte: »Willkommen in Siglufjörður, Meister.«
    Die Dunkelheit lastete über dem Dorf, als sie in den Fjord hineinfuhren.
    Die Häuser mit ihren bunten Dächern waren in dieser Dunkelheit wie von einem Schleier überzogen, eine leichte Schneeschicht lag über den Gärten und Grashängen.
    Vereinzelt blinzelte ein Halm unter dem Schnee hervor, als weigerte er sich, den Winter willkommen zu heißen.
    Die Berge so hoch, so überwältigend.
    »Ob es wohl einen harten Winter geben wird?«, fragte Ari scheinbar wie aus dem Nichts, als ob er eine Bestätigung dafür brauchte, dass etwas Erfreuliches vor ihm lag. Aber irgendwie war es ein ungewöhnlich bedrückender Tag.
    Tómas lachte über den jungen Neuzugang neben ihm und antwortete mit seiner tiefen Bassstimme: »Der Winter in Siglufjörður ist immer hart.«
    Nur wenige Menschen waren unterwegs, und es gab kaum Verkehr. Es war kurz vor zwölf Uhr, und Ari nahm an, dass das Leben erst nach Mittag so richtig in Gang kommen würde.
    »Es ist wirklich ruhig hier«, sagte er, um das Schweigen zu brechen. »Der Zusammenbruch der Banken scheint hier noch nicht angekommen zu sein, so wie anderswo.«
    »Zusammenbruch der Banken? Sagt mir nichts. Die Bankenkrise bleibt in Reykjavík, sie kommt nicht bis hierher in den Norden – zu weit weg, Meister«, sagte Tómas und fuhr mitten im Dorf auf den Rathausplatz. »Die goldenen Jahre sind hier in Siglufjörður spurlos an uns vorübergezogen, was soll uns also dieser Kollaps angehen.«
    »Genauso geht es mir auch«, antwortete Ari. »Bei uns Studenten konnte man in den letzten Jahren wirklich nicht von goldenen Jahren sprechen.«
    »Unsere Krisen kommen vom Meer«, fuhr Tómas fort. »Früher boomte es hier geradezu, bevor der Hering im wahrsten Sinne des Wortes verschwand. Heute wohnen hier viel weniger Menschen als damals, gerade mal tausenddreihundert Seelen.«
    »Hier wird wohl kaum jemand wegen zu schnellen Fahrens erwischt werden, es ist ja kaum ein einziges Auto auf der Straße«, bemerkte Ari.
    »Pass mal auf«, Tómas setzte eine geheimnisvolle Miene auf, »unser Job ist es nicht, so viele wie möglich zu bestrafen. Im Gegenteil – das hier
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