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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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Prolog
    Siglufjörður,
    Mittwoch, 14 . Januar 2009
    Die rote Farbe wirkte wie ein gellender Schrei in der Stille.
    Die Erde war von Schnee bedeckt, der Schnee so weiß, dass er im Kampf mit der Dunkelheit an diesem Winterabend beinahe den Sieg davongetragen hätte. Himmlisch in seiner Reinheit. Es hatte seit dem Morgen geschneit, die Schneeflocken waren groß und mächtig, fielen majestätisch zur Erde. Zur Abendbrotzeit gab es eine Pause, und seitdem hatte es nicht mehr geschneit.
    Es waren nur wenige unterwegs, die meisten Dorfbewohner saßen zu Hause und gaben sich damit zufrieden, das Wetter vom Fenster aus zu genießen. Zudem war es denkbar, dass einige beschlossen hatten, sich nach dem Todesfall beim Theaterverein draußen nicht blicken zu lassen. Die Gerüchte hatten sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und es lag eine beklemmende Stimmung über dem Dorf, das eigentlich so friedlich wirkte. Ein vorbeifliegender Vogel hätte nichts Außergewöhnliches bemerkt – er hätte die Spannung in der Luft nicht wahrgenommen, die Ungewissheit, die Angst gar –, nicht bis zu jenem Augenblick, in dem er über den kleinen Garten hinter dem Haus im Zentrum des Dorfes geflogen wäre.
    Die gewaltigen Bäume, die den Garten umsäumten, trugen ihr schönstes Winterkleid; sie konnten sich in der Dunkelheit in düstere Schatten verwandeln. Dann erinnerten sie eher an Clowns als an Trolle, ganz weiß von der Spitze bis zu den Wurzeln, das Äußere spielerisch leicht – obwohl der schwere Schnee die Äste unter sich bog.
    Ein angenehmes Licht ging von den lieblichen Häusern aus, und die Straßenlaternen erleuchteten die wichtigsten Straßen. Der Garten war alles andere als in Dunkelheit getaucht, auch wenn der Abend schon etwas fortgeschritten war.
    Die Berge, die das Dorf beschützen sollten, waren fast schneeweiß an diesem Abend. Trotzdem hatten sie ihre Aufgabe in den vergangenen Tagen nicht richtig erfüllt: Etwas Fremdes, Bedrohliches hatte sich in das Dorf geschlichen. Etwas, das mehr oder weniger unsichtbar gewesen war – bis zu diesem Abend.
    Sie lag in der Mitte des Gartens, wie ein Schneeengel.
    Aus der Ferne sah sie friedlich aus.
    Die Arme waren ausgestreckt, sie trug abgewetzte, blaue Jeans, und ihr Oberkörper war nackt. Das lange Haar lag wie eine Krone im Schnee.
    Nur der Schnee hätte nicht so rot sein dürfen.
    Neben ihrem Körper hatte sich eine kleine Blutlache gebildet.
    Die Haut schien bedenklich schnell zu erblassen und nahm eine schneeweiße Farbe an, als ob sie einen Gegensatz zur roten Farbe bilden wollte, die so grell ins Auge stach.
    Ihre Lippen wurden immer bläulicher. Sie atmete schnell.
    Die Augen waren noch immer geöffnet.
    Sie schienen in den düsteren Himmel zu starren.
    Und dann, auf einmal, schlossen sich die Augen.

1. Kapitel
    Reykjavík,
    Frühling 2008
    Es war noch immer hell draußen, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging. Die Tage wurden länger und länger. Zu dieser Jahreszeit gab es nichts Besseres, als dass jeder Tag, heller als der Tag zuvor, die Hoffnung auf bessere Zeiten mit sich brachte. Und es war auch im Leben von Ari Þór Arason hell geworden. Kristín, seine Freundin, war endlich zu ihm in seine kleine Wohnung in der Öldugata eingezogen. Das war nichts anderes als eine logische Folge davon, was sich vorher abgespielt hatte. Sie hatte ohnehin die meisten Nächte bei ihm verbracht, außer wenn Prüfungen bevorstanden, dann saß sie oft bei ihren Eltern und lernte in Ruhe bis spät in die Nacht, so dass es sich nicht mehr lohnte, zu ihm herüberzukommen.
    Kristín kam ins Schlafzimmer, frisch geduscht, das Handtuch um die Hüften gewickelt. »Ach du lieber Himmel, bin ich müde – ich verstehe manchmal nicht, warum ich mich für dieses verdammte Medizinstudium entschieden habe.«
    Ari saß an seinem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer und blickte zu ihr hoch. »Du wirst eine phantastische Ärztin werden.«
    Sie legte sich mitten aufs Bett, auf die Decke, und räkelte sich. Auf der weißen Bettdecke sah ihr blondes Haar wie eine Krone aus.
Wie ein Engel
, dachte Ari und betrachtete sie, wie sie die Arme ausstreckte und sie in weichen Bewegungen wieder heranzog.
    Wie ein Schneeengel
.
    »Danke, Liebling. Und du wirst ein phantastischer Polizist.« Und fügte dann hinzu: »Du hättest aber trotzdem das Theologiestudium vorher abschließen sollen.«
    Das wusste er selber auch; brauchte es nicht auch noch von ihr zu hören. Zuerst war es die Philosophie – auch dieses
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