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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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eingeschlossen, arbeiten wollten. Hrólfur hatte nicht jeden aufgenommen; er traf sich mit allen möglichen Mietern persönlich, bevor der Vertrag unterzeichnet wurde, und es war schon vorgekommen, dass er Menschen abgelehnt hatte, wenn sie ihm nicht gefielen.
    »Du wirst also in der Fischindustrie arbeiten, hast du gesagt?«, hatte er mit warmer und kräftiger, aber etwas heiserer Stimme gefragt, die durch die gesamte Wohnung hallte. Er betrachtete sie mit klugen und wachen Augen; den Augen eines Mannes, der sowohl Freude wie auch Leid erfahren hatte.
    »Ja, erst mal für den Anfang«, sagte sie leise, sprach eher den Boden der Wohnung an als ihn selbst.
    »Wie bitte? Du musst schon etwas lauter sprechen, mein Kind«, sagte er mit Nachdruck.
    Sie hob die Stimme.
    »Ja, erst mal für den Anfang.«
    »Und wissen deine Eltern denn davon? Du bist so unglaublich jung.«
    Er kniff die Augen zusammen und spannte seine Lippen auf eine seltsame Art, als ob er zu lächeln versuchte, ohne aber wirklich zu lächeln.
    »Ja, natürlich. Aber ich bestimme dennoch über mich selbst.« Sie sprach deutlicher als zuvor, war entschlossener in ihrem Auftreten.
    »Gut. Ich bin zufrieden mit Leuten, die für sich selbst einstehen können. Trinkst du Kaffee?«
    »Ja«, log sie. Sie ging davon aus, dass sie sich an Kaffee genauso gut gewöhnen könnte wie an anderes auch.
    Er hatte offensichtlich einen guten Eindruck von ihr. Sie zog umgehend in die Souterrainwohnung ein und ließ sich dort nieder – zog erst in eine größere Wohnung um, nachdem eineinhalb Jahre vergangen waren.
    Sie hatten sich während dieser Zeit ungefähr einmal in der Woche am Abend zusammengesetzt und Kaffee getrunken. Das war an und für sich keine Pflicht, und sie hatte es auch in keiner Weise als Pflichtübung empfunden. Sie hatte es sehr genossen, mit ihm über vergangene Zeiten zu plaudern, die Heringsjahre, die Kriegsjahre, die Auslandsreisen und Konferenzen, die er als berühmter Autor besucht hatte.
    Wenn man so will, hatte er damit seinen Anteil dazu beigetragen, sie aus ihrem Kokon zu befreien. Ihre Augen erneut für das Leben zu öffnen.
    Sie sprach mit Hrólfur nur wenig über die Vergangenheit. Und Ágúst erwähnte sie nie. Sie redeten über Literatur und Musik. Sie hatte in jungen Jahren in Patreksfjörður Klavier gespielt. Er erlaubte ihr jedes Mal, wenn sie kam, für ihn zu spielen und schlug dann vor, dass sie versuchen sollte, Schüler anzuwerben, bot ihr den Gebrauch seines Klaviers in seinem Wohnzimmer an. Sie meinte, dass sie sich die Sache überlegen wolle, und eines Tages, als sie mit dem Leben gerade zufrieden war, hatte sie eine kleine Anzeige im Lebensmittelladen aufgehängt; ein DIN -A 4 -Blatt, auf dem sie vermerkt hatte: »Gebe Klavierstunden. Preis nach Absprache.« Ihre Telefonnummer und ihren Namen schrieb sie unten fünfmal auf das eingeschnittene Blatt, damit ihre Schüler in spe die einzelnen Zettelchen abreißen konnten. Hrólfur war über ihre Initiative äußerst erfreut gewesen – es hatte sich bis jetzt aber noch niemand gemeldet.
    Sie sprachen aber nicht nur über Musik, denn es war ihr herausgerutscht, dass sie sich in Patreksfjörður und später im Gymnasium in Ísafjörður auch für das Theaterspielen interessiert hatte und bei der Aufführung eines Laientheaters mitgespielt hatte. Es war an einem Juniabend, als dieses Thema zur Sprache kam. Hrólfur und sie saßen beim Fenster, tranken Kaffee und aßen Schmalzgebäck. Der Fjord war spiegelglatt und das Dorf hell erleuchtet, obwohl die Sonne bereits hinter den Bergen verschwunden war und ihre Strahlen sich lediglich an den Bergspitzen östlich des Fjords widerspiegelten.
    Da erzählte er ihr, dass er der Präsident des Theatervereins von Siglufjörður sei. Es sei gewiss ein kleiner Verein und es würden nur wenige Stücke aufgeführt, meist nur eines im Jahr – aber er versprach, sie dem Regisseur zu empfehlen. Er hielt sein Wort, obwohl sie noch versucht hatte, Einwände zu erheben, und im Herbst darauf war sie bereits für eine Rolle in einer Komödie besetzt worden.
    Es war wirklich unglaublich, wie sie sich auf der Bühne vergessen konnte.
    Es war, wie in eine andere Welt einzutauchen. Sie schaute den Scheinwerfern, welche die Bühne erleuchteten, ins Auge, die Zuschauer spielten keine Rolle. Einer, zwei oder fünfzig, sie alle verschwammen im Licht. Auf der Bühne war sie weder in Patreksfjörður noch in Siglufjörður. Sie konzentrierte sich auf den Text,
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