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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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dunkelblauen Augen, die einen so scharfen Kontrast zu ihrem kurzen, blonden Haar bildeten, machten auf viele bei der ersten Begegnung einen verträumten Eindruck, doch darunter war sie unglaublich entschlossen und wusste genau, was sie wollte.
    »Ja, das ist ja unglaublich … ich habe mir ehrlich gesagt keine Hoffnung gemacht, so schnell irgendeine Zusage zu bekommen – im Dezember werden so viele die Ausbildung abschließen und es gibt nur sehr wenige offene Stellen.«
    »Wo ist es? Hier in der Stadt? Machst du eine Stellvertretung?«
    »Nein, eine feste Stelle, für mindestens zwei Jahre.«
    »Hier in der Stadt?«, wiederholte Kristín, und es war deutlich aus ihrem Gesicht zu lesen, dass sie bereits vermutete, dass das nicht der Fall sein würde.
    »Nein, das allerdings nicht …«
    Er zögerte und fuhr dann fort: »Es ist im Norden … in Siglufjörður.«
    Sie schwieg einen Moment; die paar Sekunden schienen Minuten zu dauern.
    »In Siglufjörður?« Sie erhob instinktiv die Stimme. Der Ton sagte alles, was es zu sagen gab.
    »Ja. Das ist eine einmalige Gelegenheit.« Die Stimme fest, das Lächeln verschwunden.
    »Und hast du bereits zugesagt? Ist es dir nicht mal in den Sinn gekommen, das zuerst mit mir zu besprechen?« Sie kniff die Augen zusammen; es lag Bitterkeit in ihrer Stimme, beinahe Wut.
    Hatte er es vielleicht unterlassen, diese Sache mit ihr zu diskutieren, um ihr zu zeigen, dass er selbständige Entscheidungen treffen, auf eigenen Füßen stehen konnte?
    »Ich brauch dir nicht alles mitzuteilen«, sagte er und fügte hinzu: »Manchmal muss man einfach die Gelegenheit beim Schopf packen. Hätte ich nicht sofort geantwortet, hätten sie einfach jemand anderen angerufen.«
    Er schwieg, fügte dann hinzu: »Sie haben mich ausgewählt.«
    Ari hatte seinerzeit das Philosophiestudium aufgegeben. Hatte dann das Theologiestudium aufgegeben. Er hatte seine Eltern viel zu jung verloren, war praktisch seit der Kindheit auf sich allein gestellt gewesen. Dann hatte Kristín ihn auserwählt. Damals hatte er dasselbe Gefühl empfunden.
    Sie hat mich ausgewählt
.
    Die erste ernsthafte Anstellung – eine verantwortungsvolle Position. Er hatte während seiner Ausbildung in der Polizeischule vollen Einsatz gezeigt. Warum konnte Kristín sich nicht einfach mit ihm freuen?
    »Du kannst nicht einfach beschließen, nach Siglufjörður zu ziehen, ohne das vorher mit mir zu besprechen, zum Teufel nochmal. Sag ihnen, dass du dir die Sache erst noch überlegen musst«, sagte sie mit kühler Stimme.
    »Ganz bestimmt nicht. Ich habe zugesagt und damit hat sich’s! Ich gehe Mitte November, kann die letzten Prüfungen von Siglufjörður aus absolvieren und komme an Weihnachten natürlich nach Hause. Du musst einfach schauen, ob du nicht mitkommen kannst.«
    »Ich muss neben dem Studium auch nächsten Sommer hier in der Stadt arbeiten, das weißt du genau, Ari. Ich verstehe dich einfach nicht.« Sie stand auf. »Das ist doch totaler Unsinn. Ich dachte, wir seien Verbündete, würden all das zusammen entscheiden.« Sie senkte den Blick, als ob sie die Tränen verbergen müsse. »Ich gehe mal eine Runde spazieren.«
    Mit schnellen Schritten lief sie aus dem Zimmer.
    Ari stand da wie angewurzelt, hatte jegliche Kontrolle über die Situation verloren.
    Er wollte ihr noch etwas nachrufen, als die Wohnungstür auch schon ins Schloss knallte.

4. Kapitel
    Siglufjörður,
    November 2008
    Ugla saß in der Mansarde.
    Das hatte Ágúst immer gesagt, als sie zu Hause bei ihren Eltern in Patreksfjörður zusammen oben in der Mansarde gesessen und auf die Straße hinuntergeschaut hatten.
    Sie lächelte beim Gedanken daran. Sie konnte nun wieder lächeln, wenn sie an ihn dachte. Es waren vier Jahre vergangen, seit sie nach Siglufjörður gezogen war – allein.
    Und es waren vier Jahre vergangen, seit sie Patreksfjörður das letzte Mal gesehen hatte.
    Ihre Eltern besuchten sie regelmäßig, zuletzt Ende Oktober; sie waren zwei Wochen lang bei ihr gewesen.
    Sie waren am Morgen nach Westen zurückgefahren.
    Und wieder war sie allein.
    Sie hatte hier zwar ein paar gute Freundinnen gefunden, aber keine stand ihr besonders nahe. Sie redete nie über die Vergangenheit. In den Augen der anderen war sie einfach eine Zugezogene aus den Westfjorden.
    Sie wusste, dass die Jungs im Dorf sich Klatschgeschichten über sie erzählten, die allesamt von Grund auf erlogen waren. Aber das machte nichts. Sie hatte mittlerweile eine harte Schale. Als ob es ihr
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