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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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Gleichgewicht, als er die Tür öffnete und sie hineinstieß; er hielt ihren Mund immer noch fest umschlossen. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt die Kraft gehabt hätte zu schreien, um Hilfe zu rufen, selbst wenn er den Griff gelockert hätte. Der Schock saß zu tief. Er schloss die Tür behutsam. Die nächsten Sekunden lagen in tiefem Nebel, als ob sie sich in einer anderen Welt befände, sie hatte keine Energie, sich zu wehren.
    Es war ihr bisher nicht gelungen, ihn anzuschauen, sie hatte keine Chance gehabt, sich umzudrehen.
    Plötzlich blieb er stehen. Nichts geschah. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen. Sie hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, er hielt sie lediglich mit der rechten Hand, aber nicht mit der linken – sie ging im Kopf alle Möglichkeiten durch. Sie konnte ihn mit einem einzigen Schlag überraschen, einem Beintritt – sich loslösen, davonrennen, Hilfe rufen …
    Doch plötzlich war alles zu spät. Sie hatte gezögert. Und in der Zwischenzeit hatte er so viel Spielraum gehabt, um ein scharfes Jagdmesser hervorzuholen.

6. Kapitel
    Siglufjörður,
    November 2008
    Der kleine, alte Tunnel war der einzige Weg in den Fjord hinein, es sei denn, die Besucher wollten den Schneeweg nehmen oder über den Bergpass fahren, der im Winter ohnehin unbefahrbar war. Oder man hatte so viel Glück, jemanden zu kennen, der einen nach Siglufjörður fliegen und auf dem kleinen Flughafen landen konnte, denn es hatte seit langem keine regelmäßigen Flüge nach Reykjavík mehr gegeben.
    Ari wusste, dass er in einem kleinen Dorf mit einem Auto nichts anfangen konnte, also hatte er seinen gelben Kleinwagen zu Hause bei Kristín gelassen. Sie hatte ihn nicht nach Norden begleiten können. Die Arbeit und die Schule waren schuld. Er hatte alles versucht, um sie zu überreden, sich das Wochenende freizunehmen und mit ihm nach Norden zu kommen. Es wäre ein schöner Wochenendausflug gewesen und eine gute Gelegenheit für sie beide, eine kurze Zeit in Ruhe miteinander verbringen zu können.
    Kristín hatte sich noch immer nicht wirklich damit abgefunden, dass er wegzog. Auch wenn sie kaum darüber sprach, konnte er es an ihren Reaktionen spüren, wenn Siglufjörður ins Gespräch kam. Ihr Studium und seine Ausbildung waren für sie beide sehr zeitraubend, und sie arbeitete neben dem Studium ja obendrein auch noch im Krankenhaus. Es irritierte Ari, dass sie sich nicht die Zeit nahm, um mit ihm nach Norden zu fahren. Sie würden einen Monat lang getrennt sein, bis Weihnachten. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, kam aber immer wieder zu derselben Überlegung:Welchen Platz belegte er eigentlich auf ihrer Hitliste? Den ersten Platz? Oder den zweiten, nach dem Medizinstudium? Oder vielleicht den dritten, nach Studium und Arbeit? Sie hatte ihn herzlich an sich gedrückt und ihm einen Abschiedskuss gegeben. »Mach’s gut, Liebling.« Und doch war es, als ob eine hauchdünne Wand zwischen ihnen stünde, eine unsichtbare Wand, die er spüren konnte – und sie vielleicht auch.
    Tómas, der Polizeichef in Siglufjörður, hatte sich angeboten, Ari am Flughafen von Sauðarkrókur abzuholen. »Von da dauert es normalerweise eineinhalb Stunden bis nach Siglufjörður, doch die Fahrerei ist im Moment schrecklich, so dass es für uns wohl etwas länger dauern wird; falls wir überhaupt den ganzen Weg fahren können!« Er lachte herzlich ob des eigenen Galgenhumors. Ari antwortete nichts – er konnte diesen Mann nicht wirklich einschätzen.
    Tómas war offensichtlich weit über fünfzig. Sein Äußeres wirkte sehr sympathisch, seine Haare waren bereits schlohweiß – oder das, was davon noch übrig war auf der Mitte des Hauptes. Er redete unterwegs nur wenig, saß konzentriert am Steuer, obwohl er diese Straße sicher schon unzählige Male gefahren war.
    »Bist du hier im Norden geboren?«, fragte Ari.
    »Geboren, aufgewachsen – und ich werde niemals irgendwo anders hingehen«, antwortete Tómas.
    »Wie nehmen die Leute neu Hinzugezogene auf?«
    »Tja … ganz gut, wie es halt so ist, du musst dich einfach beweisen – einige werden dich gut aufnehmen, andere nicht. Ich kann dir aber bereits verraten, dass die meisten im Dorf über dich Bescheid wissen und sehr gespannt sind, dich kennenzulernen.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Der alte Eiki, der jetzt aufhört und von dem du den Posten übernimmst, ist 1964 in den Norden gekommen, wenn ich mich richtig erinnere, und wohnt seitdem hier. Aber für uns
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