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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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sie losgelassen, so dass sie zu Boden fiel.
    Dann sah sie ihn zum ersten Mal. Er trug eine abgewetzte, schwarze Lederjacke, schwarze Jeans, schwarze Turnschuhe – und eine schwarze Sturmhaube auf dem Kopf, so dass nur die Augen, die Nase und der Mund zu erkennen waren. Sie war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte, seinen starken Armen nach zu urteilen war er wahrscheinlich noch jung. Sie wusste sofort, dass sie ihn niemals wiedererkennen würde. Wenn sie das hier überhaupt überleben würde.
    Sie hörte ihn flüstern, dass sie sich zusammenreißen solle, sonst würde er nicht zögern, das Messer zu benutzen. Sie glaubte ihm. In diesem Augenblick wurde sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst, der Gedanke brach gewissermaßen mit dem kalten Schweiß hervor, der Gedanke, dass möglicherweise ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich – was käme danach? Die schwarze Ewigkeit, oder vielleicht das Himmelreich? Sie lag am Boden und spürte Schmerzen am ganzen Körper nach dem Sturz, sah ihn mitten im Raum stehen – eingemummt, mit der Waffe in der Hand.
    Zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte sie das Bedürfnis, zu Gott zu beten.

8. Kapitel
    Siglufjörður
    Dezember 2008
    Die Decke hing tief in dem Dachzimmer, das Ari als sein Schlafzimmer auserkoren hatte. Es war nicht das größte Zimmer im oberen Stock, aber aus irgendeinem Grund hatte er sich entschieden, das kleinere Zimmer mit dem schmaleren Bett zu wählen statt das größte Zimmer mit dem Doppelbett. Wohl um sich vor Augen zu führen, dass er ganz allein auf diese Reise gegangen war.
    Er hatte das Bett so gedreht, dass er aus dem Mansardenfenster spähen konnte, wenn er sich schlafen legte oder aufwachte. Meistens sah er hingegen wenig anderes als die kohlrabenschwarze Dunkelheit.
    Der Wecker klingelte jetzt schon zum vierten Mal. Ari streckte sich immer wieder danach aus, um noch weitere zehn Minuten im Traumland verweilen zu können. Er schlief immer wieder von Neuem ein, und es erschien ihm jedes Mal ein neuer Traum, jeder anders als der vorherige, als ob er sich bei einem Kurzfilmfestival befände, wo er als Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor in Personalunion fungierte.
    Es ging schon auf zehn Uhr zu. Er musste erst mittags bei der Arbeit sein. Die ersten beiden Wochen waren wie im Flug vergangen. Das unangenehme Gefühl war etwas von ihm gewichen – vielleicht konnte er es gänzlich ignorieren, wenn er viel arbeitete und sich auf die Schlussprüfungen in der Polizeischule konzentrierte. Er nahm alle Schichten an, die sich ihm boten. Verspürte eine gewisse Platzangst, wenn er abends alleine im Bett lag und aus dem Dachfenster in die Dunkelheit starrte. Und doch wollte er lieber zum Fenster hinausschauen als gar nicht.
    Manchmal überwältigten ihn die Tage, wenn das Wetter ausgesprochen schlecht war, vor allem, wenn es viel schneite. Er hatte sich noch immer keinen Internetanschluss besorgt – vielleicht sogar halb mit Absicht. Er konnte seine E-Mails bei der Arbeit lesen und wusste es zu schätzen, abends nach Hause zu kommen – ja, er hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, hier
zu Hause
zu sein –, wo er in Ruhe und Frieden mit nur wenig Kontakt zur Außenwelt sein Dasein fristen konnte. Gutes Essen kochen, Studienbücher lesen – wie auch andere Bücher. In der ersten Woche war er in einer Kaffeepause zur Bibliothek hinübergelaufen, um sich ein paar Bücher auszuleihen, die er schon immer hatte lesen wollen, aber bisher die Zeit dazu nicht gefunden hatte. Deren widmete er sich, wenn er vom Lernen genug hatte. Gleichzeitig hatte er sich ein paar CD s mit klassischer Musik ausgeliehen.
    Manchmal hörte er abends Musik, es kam aber auch vor, dass er einfach das Radio anmachte, wenn zum Beispiel ein klassisches Konzert ausgestrahlt wurde. Wenn Ari dem Sinfonieorchester zuhörte, musste er immer an seine Mutter denken, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, als er noch ein Kind war. Sie war Geigerin im Sinfonieorchester gewesen. Er vermied es, fernzusehen; schaute sich kaum einmal die Nachrichten an, bekam aber dennoch mit, dass da unten im Süden nach dem Bankencrash alles zusammenzustürzen drohte, die Demonstrationen wurden mit jedem Tag lauter.
    Nach seinen Schichten machte Ari meist einen kleinen Umweg auf dem Weg nach Hause, ging zum Meer hinunter und blieb dort eine Weile stehen. Die Nähe des Meeres hatte etwas Beruhigendes an sich.
    Die Arbeit gefiel ihm ganz gut.
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