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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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Erstes Kapitel
    Das Mädchen hatte Sterne in den Haaren.
    Das verwirrte sie, es war ihrem Gesicht deutlich anzusehen. Sie war fremd hier, und das war sie nicht gewöhnt.
    Aber es war auch kein Wunder, dachte Seth und legte den Kopf schief, während er sie aus dem Schatten heraus beobachtete. Denn wie auch immer es geschehen sein mochte, dass sie hier hereingestolpert war – sie war heute Nacht nicht in ihrem Traum. Sie war in seinem.
    Vorsichtig schlich er sich näher an das Mädchen heran. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und Seth beschloss, es noch für einen Augenblick dabei zu belassen. Er wollte sehen, was sie tat. Er hatte schon öfter gehört, dass es Menschen geben sollte, die das konnten: in fremden Träumen wandeln. Aber begegnet war er bisher noch keinem von ihnen. Ob sie auch in der Lage sein würde, seinen Traum zu verändern?
    Weit oben am schwarzblauen Himmel zersprangen weitere Sterne wie kleine Feuerwerkskörper und rieselten glitzernd zu Boden, wo sie in einer pudrigen weißen Schicht liegen blieben. Als das Mädchen die Arme ausstreckte, schmolzen die Sternensplitter wie Schneeflocken in ihren Handflächen. Sie lächelte. Sie war fremd, aber es gefiel ihr hier.
    »So viele Wünsche!«, sagte sie zu den Sternen. Dann warf sie einen langen Blick in die Runde, runzelte nachdenklich die Stirn – und öffnete schließlich ein Fenster aus der Nacht hinaus in den Tag. Sonnenlicht fiel herein, und wo es den Boden berührte, zerfloss der Sternenschnee zu feinem Sand. Meeresrauschen drang an Seths Ohren, und er fühlte einen Schauer sein Rückgrat entlangrinnen.
    Sie konnte es, begriff er fasziniert. Sie konnte es tatsächlich! Das dort hinter dem Fenster musste ihr eigener Traum sein, und sie hatte einen Durchgang dorthin erschaffen. Einfach so, ganz leicht, als wäre gar nichts dabei. Und sie würde gleich gehen, wenn er nichts dagegen unternahm.
    Seth konnte sich nun nicht mehr zurückhalten. Behutsam löste er sich aus den Schatten des Nachtglases und landete mit einem weichen Satz hinter ihr. Der Geruch von Wind und Freiheit kitzelte seine Nase, und Seth neigte sich vor, bis sein Atem den Nacken des Mädchens streifte.
    »Nicht aufwachen!«, flüsterte er. »Bleib noch einen Augenblick!«
    Das Mädchen erstarrte. Eine Gänsehaut überzog ihren Hals. Langsam drehte sie sich um und sah Seth aus großen Augen an. Ein entzückendes Grübchen erschien über ihrer rechten Braue, als sie die Stirn runzelte. »Wer bist du?«
    Seth betrachtete sie belustigt, die Lider zu schalkhaften Schlitzen verengt. Ihre Haare, die im Wind vom Fenster her tanzten, lockten ihn fast unwiderstehlich, die Hand auszustrecken und seine Finger mit den feinen Strähnen spielen zu lassen.
    »Ich bin Seth«, sagte er endlich. »Und dies ist mein Traum. Mein Revier.«
    Auch über der linken Braue erschien jetzt ein nachdenkliches Grübchen. Dann aber schüttelte das Mädchen leicht den Kopf. Vorsichtig, als könne eine zu hastige Bewegung ihn verscheuchen, hob sie den Arm und ließ ihre Fingerkuppen über Seths Wange gleiten, bis hinunter zu seinem Kinn, ehe sie die Hand langsam wieder sinken ließ. »Und wirst du mich durch dein Revier wandern lassen?«
    In der spiegelnden Schwärze ihrer Pupillen konnte Seth ein verzerrtes Abbild seiner selbst sehen. Eine schlanke Silhouette mit Haut wie milchig schwarzes Glas, und Mandelaugen, deren schimmernde Iriden die Farbe von flüssigem Gold hatten. Große, spitze Ohren unter wirrem Haar, mit feinem Flaum bedeckt wie die einer Fledermaus. Sie konnte unmöglich ahnen, wer oder was er wirklich war. Aber sie hatte keine Angst.
    Seth lächelte und zeigte spitze Raubtierzähne. »Wann immer du willst, Sternenkind.«
    Das Mädchen nickte nachdenklich. »Dann sehen wir uns. Aber jetzt muss ich aufwachen.«
    Leises Bedauern breitete sich in Seths Brust aus. Aber er wusste, er konnte sie nicht länger halten. Noch nicht. Nun griff er doch nach ihrem Haar, ließ es flüchtig durch seine Finger fließen. »Ich warte hier auf dich.«
    Das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück, als sie noch einmal bekräftigend nickte – ein freies, fröhliches Lächeln, das zu dem Wind passte, den sie mitgebracht hatte. Dann kletterte sie auf die Fensterbank. »Bis bald, Seth«, sagte sie über die Schulter, ehe sie sprang.
    Das Fenster schloss sich und verschwand. Der Wind verstummte.
    Eine Weile noch blieb Seth stehen, wo er war, und blickte gedankenverloren auf die Stelle, an der eben noch der Durchgang in einen
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