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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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angefahren zu haben.
    »Hey… warte mal!«
    Aber der Junge beschleunigte nur seine Schritte, wechselte die Straßenseite, und sein zotteliger Schopf verschwand zwischen ein paar Bäumen, die ihre noch fast winterkahlen Zweige tief über einen kopfsteingepflasterten Pfad und ein unscheinbares, halb verwittertes Schild hängen ließen:
    Franziskus-Gymnasium.
    Noch völlig perplex blieb Nele stehen und starrte ungläubig auf das Schild. Das war doch nicht möglich! Hatte sie wirklich die ganze Zeit direkt gegenüber der Schule gestanden und sich dafür fast von einem Fernseher erschlagen lassen?
    Es sah ganz so aus. Wie unglaublich peinlich.
    Hastig warf Nele einen Blick auf ihre Armbanduhr. Der Junge war inzwischen längst nicht mehr zu sehen, aber immerhin wusste sie jetzt, wo es langgehen musste. Und wenn sie ein bisschen Dampf machte, würde sie vielleicht sogar gerade noch rechtzeitig zum Unterricht kommen.
    Das Franziskus-Gymnasium war sehr viel beeindruckender, als Nele es sich vorgestellt– und vor allem, als sie es nach der nur mittelmäßig sauberen Plattenbausiedlung, in der es lag, erwartet hätte. Es war ein stolzes, schon vor vielen Jahren ergrautes Gebäude, das eher einer riesigen Villa glich als einer Schule. Dichte, jetzt im März allerdings noch blattlose Weinreben und Efeu kletterten an der stuckverzierten Fassade empor. Der Eingang wurde von zwei würdevollen Löwen flankiert, die über den verlassenen Schulhof wachten und Nele streng musterten, als sie zwischen ihnen hindurchhuschte.
    Drinnen blieb sie stehen und wühlte sicherheitshalber noch einmal den Zettel aus ihrem Rucksack, auf den sie ihren Stundenplan gekritzelt hatte. Montag, erste Stunde: Englisch bei Frau Klein, Raum 117. Erster Stock also, vermutlich. Nele sah sich kurz nach Hinweisschildern um, die auf etwas anderes hätten schließen lassen können, konnte aber keine entdecken. Das Innere der Schule war nicht weniger altehrwürdig als ihr Äußeres, mit Bronzereliefs an den hohen, weißgetünchten Wänden und blankpolierten, aber zum Teil bereits gesprungenen Steinfliesen. Bestimmt war dieses Gebäude vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten so gebaut worden, damit armselige Schüler ganz klein vor Ehrfurcht und mit offenem Mund hindurchwandern mussten, während ihre Schritte geisterhaft von den Wänden widerhallten. Unruhig zupfte Nele mit den Zähnen an dem Ring in ihrer Unterlippe– eine dumme Angewohnheit, in die sie immer verfiel, wenn sie nervös war. Manchmal glaubte sie, sie hätte sich das Piercing überhaupt nur darum stechen lassen: damit sie etwas hatte, woran sie fummeln konnte, wenn sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlte.
    Im ersten Stock, vor der Tür zu Raum 117, blieb sie schließlich stehen. In manchen der Klassenräume, hinter den geschlossenen Türen, konnte sie gedämpftes Murmeln hören, mal lauter, mal leiser. In Raum 117 war es ruhig, nur eine Frauenstimme sprach. Das musste Frau Klein sein– die ihren Unterricht offenbar sehr pünktlich begann. Das musste sie sich merken, dachte Nele. Ein letztes Mal zog sie ihre Klamotten zurecht und versuchte, ihr pochendes Herz zu beruhigen. Das waren ganz normale Leute da drin. Viel normaler als sie selbst wahrscheinlich. Nichts, wovor sie sich zu fürchten brauchte. Entschlossen hob sie die Hand und klopfte.
    Die Stimme auf der anderen Seite verstummte. Dann hörte Nele klackernde Absätze, denen ihrer Mutter gar nicht unähnlich, und die Tür wurde geöffnet.
    »Ah! Du musst Nele sein.«
    Überrascht sah Nele die Lehrerin an. Frau Klein wirkte sehr jung, fast als ginge sie selbst noch zur Schule. Sie war mit lässigem Chic gekleidet und trug die Haare in einem lockeren Pferdeschwanz. Ihr Lächeln war offen und herzlich– und doch warnten ihre hellen, wachen Augen sofort, sie keinesfalls zu unterschätzen.
    Nele nickte und bemühte sich, noch nicht zu versuchen, an der Lehrerin vorbeizuspähen, sondern ihren prüfenden Blick direkt zu erwidern. »Ja. Hallo, Frau Klein. Tut mir leid, ich habe mich ein bisschen verlaufen.«
    Frau Kleins Lächeln wurde breiter. »Schon gut, vergessen wir’s. Tun wir einfach so, als hätte ich noch nicht angefangen, einverstanden? Komm rein.«
    Sie trat beiseite, um den Weg in den Klassenraum freizugeben. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Nele richtete sich auf, straffte die Schultern und hakte die Daumen in die Hosentaschen. Dann trat sie vor ihren neuen Englischkurs.
    Augenblicklich wurde es sehr still im Raum. Etwa fünfundzwanzig
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