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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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Schränke der neuen Küche nach Süßigkeiten und fand im Hängeschrank ein Snickers, das sie zu dem Brot in ihre Tasche schob. Den Zwanzig-Euro-Schein faltete sie zusammen und steckte ihn in ein Nebenfach. Sie würde das Geld schon noch für etwas anderes gebrauchen können.
    Das Franziskus-Gymnasium war nicht gerade leicht zu finden. Es war keineswegs so, dass Nele nicht in der Lage gewesen wäre, allein in einer fremden Stadt zurechtzukommen, zumal Erfeld im Gegensatz zu ihrer alten Heimat München ein recht beschauliches Städtchen war. Die Fahrt mit der U-Bahn war absolut glattgegangen, und auch die Straße, die die Internetseite ihrer neuen Schule angab, hatte Nele im Handumdrehen gefunden. Aber auf dem Stadtplan hatte es so ausgesehen, als läge das Hauptgebäude direkt an dieser Straße– was es in Wirklichkeit aber keineswegs tat. Zumindest konnte Nele es einfach nicht entdecken, obwohl sie nun schon zum zweiten Mal daran vorbeigelaufen sein musste.
    Schließlich drückte sie sich in den Durchgang zu einem Hinterhof, der von etlichen unsäglich hässlichen grauen Plattenbauten mit schmutzig bunten Balkonen umstanden war, und hoffte, dass niemand sie dabei beobachten würde, wenn sie wie ein hilfloser Tourist noch einmal auf den Stadtplan linste. Weit über ihr stand ein Fenster offen, aus dem Geschrei herunterschallte. Eine dunkle, poltrige Stimme, erwidert vom tränenerstickten, sich überschlagenden Keifen einer Frau, die definitiv zu oft laut werden musste, so überstrapaziert wie ihre Stimmbänder klangen. Nele schüttelte verständnislos den Kopf und vertiefte sich wieder in ihren Plan– als es neben ihr plötzlich krachte.
    Entsetzt sprang sie einen Schritt zurück, der Plan fiel ihr aus der Hand und klatschte mitten in eine Pfütze. Aber Nele bemerkte es kaum. Neben ihr, nur knapp zwei Meter entfernt, lag ein Röhrenfernseher mit implodierter Scheibe, der aus beachtlicher Höhe auf den Asphalt gedonnert sein musste. Mit offenem Mund starrte Nele auf das Gerät– ein riesiges Teil, sicher zweiundzwanzig Zoll. Dann hob sie langsam den Kopf.
    Die Schreihälse über ihr waren immer noch nicht fertig mit ihrem Streit, auch wenn die Stimme der Frau jetzt nur noch heiser kiekste. Nele zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass der Fernseher von dort oben gekommen sein musste. Ihr Herz pochte wie rasend bei der Vorstellung, wie ihr Kopf wohl nun aussehen würde, wenn sie nur ein kleines Stück weiter links gestanden hätte.
    In diesem Augenblick prallte etwas von hinten gegen ihre Schulter, so hart, dass sie taumelte und spritzend in die Pfütze stolperte, in der auch schon ihr Stadtplan lag. Jemand fluchte, offenbar mindestens so erschrocken wie sie selbst, und Nele sah aus dem Augenwinkel, wie eine Gestalt vor ihr zurückwich, während sie selbst sich noch damit abmühte, das Gleichgewicht wiederzufinden. Und nun begriff sie auch, was gerade passiert war: Dieser Jemand war in sie hineingelaufen, und zwar mit voller Wucht.
    »Sag mal, hast du sie noch alle?!«, fuhr sie den Unbekannten an. In der Aufregung geriet ihr Tonfall scharf, fast ein wenig schrill.
    Aber sie erhielt keine Antwort.
    Vor Nele stand ein Junge mit straßenköterblonden Haaren, die strubbelig von seinem Kopf abstanden, als hätte er keine Zeit gehabt, sich zu kämmen, ehe er die Wohnung verließ. Er musste aus dem Hof gekommen sein, und er hatte dabei ganz offensichtlich nicht nach vorn gesehen– und auch nicht damit gerechnet, dass jemand in seinem Weg herumlungern würde. Sekundenlang verfingen sich ihre Blicke ineinander, als müssten sie beide erst begreifen, dass sie nicht allein im graumorgendlichen Sprühregen standen.
    Dann aber, mit der Geschwindigkeit eines Wimpernschlags, verschloss sich das Gesicht des Jungen. Mit einer etwas abgehackten Bewegung rückte er den Riemen der fleckigen Ledertasche zurecht, die schief über einer abgewetzten grauen Winterjacke hing. »Entschuldigung«, murmelte er undeutlich und wollte sich an Nele vorbeischieben. Entrüstet holte sie tief Luft. Wenn er sie schon fast umrannte, konnte er sich doch wenigstens vernünftig entschuldigen!
    Aber sie kam nicht dazu, ihrem Ärger Luft zu machen. Denn in diesem Moment sah sie die Schramme auf seinem Wangenknochen. Einen feinen Schnitt, mit einer Spur verschmierten Blutes darunter, als hätte er hastig darübergewischt. Augenblicklich schlug Neles Wut in eine merkwürdig beklommene Betroffenheit um. Beinahe hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen, ihn so
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