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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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wechselnder Besetzung von Schülern und Lehrern. Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr verwandelte er sich in einen rauschenden Strom aus Namen und Gesichtern, die Nele schon bald nicht mehr zuordnen konnte. Es fühlte sich an, als wollte jeder einzelne der neuen Mitschüler sie wenigstens einmal aus der Nähe begutachten. Wie oft sie an diesem Tag ihren Namen nennen musste, hätte sie schon nach der ersten großen Pause nicht mehr zählen können. Und auch nicht, wie oft sie erklärte, dass sie mit ihrer Familie von München nach Erlfeld gezogen war, weil ihre Mutter von der Kosmetikfirma, in der sie arbeitete, hierher versetzt worden war. In eine kleinere Zweigstelle zwar, aber dafür würde sie jetzt stellvertretende Geschäftsführerin sein. Bis das jeder Neugierige zumindest halbwegs begriffen hatte, glaubte Nele bereits, ihre Lippen würden nur noch aus trockenen Fusseln bestehen. Kein Wunder also, dass ihr keine Zeit blieb, darauf zu achten, ob Jari irgendwo in der Nähe war.
    Doch als sie schließlich mit einer Doppelstunde Geschichte den letzten Kurs des Tages erfolgreich hinter sich gebracht hatte und gerade im Laufen ihr Snickers aus dem Rucksack wühlte, rannte sie auf der Treppe fast in ihn hinein. Nur knapp entgingen die beiden dem zweiten Zusammenstoß an diesem Tag.
    Einen Moment standen sie verdutzt voreinander, halb erschrocken, halb belustigt, wie in einer Karikatur der Begegnung vom Morgen. Zumindest Nele fand die Situation auf absurde Art und Weise komisch. Jaris Miene allerdings zeigte einen Ausdruck, der irgendwo zwischen kritisch und abweisend lag– und meilenweit entfernt von dem kleinen Lächeln, das er Nele heute vor dem Englischunterricht gezeigt hatte. Vielleicht, dachte Nele, war das aber auch einfach sein überraschtes Gesicht.
    Entschlossen grinste sie und streckte ihm den Schokoriegel entgegen. »Hi. Snickers?«
    Jaris Brauen zuckten in die Höhe, und für einen winzigen Moment hatte Nele tatsächlich das Gefühl, er würde die Hand ausstrecken. Oder vielleicht sogar lachen. Dann aber runzelte er nur die Stirn und schüttelte den Kopf. »Danke, nein«, sagte er und wandte sich ab, um nun doch die Treppe hinunterzugehen. Aber so schnell wollte Nele sich nicht abschütteln lassen. Rasch schloss sie wieder zu ihm auf, und schweigend verließen sie nebeneinander das Schulgebäude.
    Jari hielt den Blick nun stur geradeaus gerichtet, und nach einer Weile kam Nele der Gedanke, dass es ihm vielleicht unangenehm war, mit ihr gesehen zu werden. Weil sie so viel Aufmerksamkeit auf sich zog, wo er doch sonst ganz offensichtlich lieber für sich blieb. Unruhig zupfte Nele an ihrem Lippenpiercing. Möglicherweise war dann jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihn in Ruhe zu lassen. Auch wenn ihr der Gedanke gar nicht gefiel. Von all den Namen und Gesichtern, die sie heute gesehen hatte, war Jari der einzige, der ihr wirklich im Gedächtnis geblieben war.
    Mit einem kleinen Seufzer riss sie die Folie von dem Schokoriegel und brach ihn in zwei Hälften. Manchmal hatte sie es mit sich selbst wirklich nicht leicht. Aber da kam sie nicht aus ihrer Haut. Sie musste es zumindest versuchen. Also hielt sie Jari eins der beiden Stücke hin.
    »Nimm schon. Ich werde nicht dran verhungern, echt nicht.«
    Jari blieb stehen. Sie hatten den Eingang zu seinem Hinterhof fast erreicht, nur noch die breite Straße trennte sie von dem schmuddeligen Spalt zwischen den grauen Wohnklötzen. Der Blick, mit dem er Nele nun musterte, hatte etwas Resigniertes an sich. Aber für einen Moment bildete sie sich ein, seine Mundwinkel zucken zu sehen.
    »Vermutlich nicht«, gab er schließlich zu.
    Bei jedem anderen Jungen hätte sich Nele über so eine Frechheit geärgert. Zugegeben, ihre Oberschenkel waren nicht unbedingt streichholzdürr, so wie seine. Und ganz bestimmt war sein Pullover auch nicht deshalb so ausgeleiert, um ein kleines Wohlstandsröllchen am Bauch zu kaschieren. Aber Nele war weit davon entfernt, sich einzubilden, sie würde in irgendeiner Weise hübscher werden, wenn sie sich das bisschen an gesundem Speck runterhungerte, das sie hatte, und sie wollte von niemandem auf der Welt so etwas hören. Bei Jari allerdings hatte sie das Gefühl, dass er viel mehr über sich selbst spottete als über sie. Und darum brachte Nele es einfach nicht fertig, wütend auf ihn zu sein. Stattdessen hüpfte ihr Herz vor Freude, weil es ihr vorkam, als hätte er jetzt, mit dem halben Schokoriegel, endlich auch ihre Entschuldigung
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