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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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    |9| Kapitel 1
Die deutsche Angst und andere Wirklichkeiten
    Kinder zu haben ist ein großes Glück. Aber auch der Rückgang der Geburtenzahlen hat viele Vorteile. Das Absinken der Geburtenrate – in der westlichen Welt, mit dem Frankreich des 19. Jahrhunderts als Vorreiter, hält dies schon fast 200 Jahre an – verändert die Welt, wie wir sie bislang kennen.
    Noch im 18. und 19. Jahrhundert bedeuteten viele Kinder das größere Glück – es sei denn, die Menschen waren so bitterarm wie die Eltern von Hänsel und Gretel. In unserer Gegenwart – und auch für die Zukunft – haben sich die Vorzeichen geändert. Heute sind weniger Kinder mehr – für die Eltern, aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Als Ganzes hat sie sich auf die niedrige Geburtenrate eingestellt. Mit einer deutlich steigenden Anzahl von Geburten und vielen Kindern könnte sie nicht mehr so funktionieren, wie wir es gewohnt sind und auch wünschen.
    Davon handelt dieses Buch. Es plädiert für etwas und gegen etwas. Für ein Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung, das deren Eigenkräfte, Eigensinn und Eigenweg in den Vordergrund stellt und nicht die Ideen moralischer und wissenschaftlicher Autoritäten über den richtigen Weg. Nicht, dass ich mich für klüger hielte als diese Autoritäten (und Kassandras). Aber ich halte die Gesellschaft und ihre Evolution für klüger als jeden Einzelnen von uns, ob nun Wissenschaftler oder nicht.
    Unsere Gesellschaft trägt so viel mehr längere und komplexere Lernprozesse in sich als jedes Individuum (sei es Arbeiter, Hausfrau oder Philosophenkönig). Sie hat Mechanismen des Umgangs mit |10| Problemen und Konflikten, der Kontinuität und des Selbsterhalts entwickelt. Wir sind zwar Teil dieser Mechanismen. Sie aber sind die größere Macht. Sie nötigen uns Neugier, Staunen und Demut ab, ähnlich wie die Kräfte der Natur. Die Selbstlenkungskräfte der Gesellschaft, auch in der Geburtenfrage, anzuerkennen, statt ihnen durch politische Zielvorgaben und Maßnahmen, die unweigerlich interessen- und wertgebunden sind, zuvorkommen zu wollen, führt wie von selbst zu einer liberalen Haltung, gerade auch in der Kinderfrage. Auch dafür bricht das Buch eine Lanze.
    Zwar können wir uns aus der Politik, auch aus der Familien- und Bevölkerungspolitik, nicht einfach verabschieden. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion ist man aber geneigt, gerade das zu fordern; so unsäglich ist das Tohuwabohu der politischen Rezepte und Schnellschüsse, die alle auf das eine hinauslaufen: Familie und Geburten zu einem immer gigantischeren Feld von direkten und indirekten Subventionen und Interventionen zu machen. An der Richtigkeit dieser Subventionspolitik scheint mittlerweile, trotz heftiger Fehden im Detail, parteiübergreifend kein Zweifel mehr zu bestehen. Gegen diesen umfassenden und unhinterfragten Konsens ist dieses Buch geschrieben.
    Der Konsens lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Erstens, es gibt zu wenig Kinder. Zweitens, die Politik muss mehr dagegen tun. Noch vor einem Jahrzehnt hätte man diese einhellige Meinung kaum ausmachen können. Sie kommt aber nicht von ungefähr. Dieser Konsens ist das Ergebnis einer Debatte zwischen besorgt-sauertöpfischen Bevölkerungswissenschaftlern – die zu Recht beklagten, dass sie bisher öffentlich kaum wahrgenommen wurden –, aufhorchenden und alarmierten Politikern und publizistischen Schaumschlägern, die das Thema medienwirksam in Szene setzen. Aus dieser Debatte schälte sich verblüffenderweise binnen Kurzem eine Übereinkunft über Zustand und Zukunft der deutschen Gesellschaft heraus: Es handle sich um eine vergreisende, kinderlose, schrumpfende Gesellschaft.
    Deutschland als Gruselkabinett – mit der Realität hat dies, wie |11| ich im Folgenden zeigen möchte, nichts zu tun. Wie aber konnte es dazu kommen, dass die Schreckensvisionen der Kassandras von der Öffentlichkeit fast gierig aufgesogen und in einen einstimmigen Abgesang verwandelt wurden?
    Die Antwort hat mit den demografischen Inhalten des Konsenses gar nichts zu tun, sehr viel aber mit der Funktion von Konsens schlechthin. Moderne Großgesellschaften, die in sich durch unterschiedliche Interessen- und Wertlagen vielfach gebrochen sind, dürsten geradezu nach Übereinstimmung. Deklarierte Werte reichen da nicht aus. Moderne Menschen wittern hinter hehren Formeln des Gemeinwohls und des allgemeinen Guten besondere Interessenlagen und Absichten – zu Recht. Viel
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