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Schmerzspuren

Titel: Schmerzspuren
Autoren: C. Bertelsmann
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den Pool und spielen Wasserball.«
    »Vielleicht ein andermal, hab Halsschmerzen, da will ich nicht schwimmen gehen.«
     
    Mein Vater würde wahrscheinlich vor Schreck ertrinken, wenn er mich in Badehose sähe. Ich erschrecke selber. Es sieht anders aus, als es sich anfühlt. Es fühlt sich nicht richtig an. Aber nötig. Manchmal muss ich es tun, weil ich sonst zerfließe, mich auflöse. Meine Konturen verschwimmen, verschwinden. Wenn ich plötzlich ganz blass werde, brauch ich das Rot. Wenn die Farben weichen und ich wie unter einem Radiergummi verschwinde. Dann muss es sein. Das ist Leben. Das pulsiert. Dann bin ich wieder da. Ich habe wieder eine Grenze. Das ist wie Eiswürfel lutschen. Es hilft. Abends auf der Terrasse, wenn ich das Familienleben vervollständigen muss. Wenn ich noch fünf Minuten sitzen bleiben muss, damit es nicht komisch aussieht. Nicht unhöflich oder gar nach Flucht. Dann nehme ich den Eiswürfel aus meiner Apfelschorle in den Mund. Erst ist es kühl. Angenehm kühl. Dann wird es kälter. Schmerzhaft kalt. Die Kälte schneidet in die Schleimhäute. Wenn es fast nicht mehr zum Aushalten ist, wird es plötzlich besser. Dann ziehen sich alle Fasern in mir zusammen. Halten mich fest.
     
    Ich wache schweißgebadet auf. Hatte einen furchtbaren Traum. Meine Eltern standen an meinem Bett. Meine Mutter hat geweint. Immer wieder über die Narben getastet.
Mein Vater hat, glaube ich, auch geheult. Hat auf ihre Haare getropft. Voll eklig. Ich gucke mich hektisch um. Meine Hand hält die Wand. Ich fühle die klumpigen Linien auf der Tapete. Wahrscheinlich war das der Auslöser für den Traum. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Heulende Eltern, ewige Gespräche. Fragen ohne Antworten. Ich dusche lang. Widerstehe mühsam der Versuchung, an der Kruste zu knibbeln. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst nicht anfangen soll.
     
    Die Tage ziehen sich wie Kaugummi unter der Sohle. Jeder Tag ein paar Minuten länger. Ich lese stundenlang immer wieder dieselben Stellen. Dabei ist das Buch noch nicht mal gut. Frage mich, ob das vielleicht schon Alzheimer ist. Ich streune durch das Haus, in der Schlafzimmerkommode meiner Mutter finde ich Wundsalbe. Ein Schnitt ziemlich nah am Handrücken hat sich entzündet. Es suppt. Ich schmiere die Salbe drauf und lege mich auf ihr Bett. Es riecht sofort nach Wick, Fencheltee, Salbeibonbons und neuen Mickey-Maus-Heften. Das alles lag hier immer auf dem Nachttisch, wenn ich krank war. Dann durfte ich in ihrem Bett liegen.
    Ich bin wohl eingeschlafen. Als ich aufwache, ist es schon Nachmittag. Meine Mutter sitzt auf der Bettkante, ihre Hand liegt auf meinem Unterarm. Auf dem Ärmel. Es kribbelt. Ich spüre die Wärme. Jeden einzelnen Finger. Ich wünschte mir, sie würde fester zufassen.
    »Ich bin wohl eingeschlafen. Entschuldige.«
    Eigentlich will ich sofort aufstehen. Aber ich bin so schwer. Sie guckt ihre Hand auf meinem Arm an. Es liegt
irgendwas in der Luft. Ich stelle mir vor, sie würde sich mit ihrem ganzen Körper auf meinen Rücken legen. Ich wünschte mir, sie wäre richtig schwer. Ich stehe schnell auf, schüttel ihre Hand ab. Wie krank bin ich eigentlich?
     
    Als ich am Abend ins Bett geh, seh ich meinen Vater die große Reisetasche aus dem Keller hochschleppen. Fährt meine Ma jetzt schon zu ihrer komischen Weiterbildung? Ich dachte eigentlich, das wäre erst später. Vielleicht habe ich aber auch völlig den Bezug zu Zeit und Raum verloren. Der nächste Morgen beginnt hektisch. Meine Mutter sucht meinen Schlafsack.
    »Musst du da in einer Jugendherberge pennen oder was? Tolle Weiterbildung.«
    Als sie ein paar Handtücher in die Tasche packt, sehe ich einen Pullover von mir.
    Sie haben für mich gepackt. Ich werde wohl verreisen. Sie bringen mich weg. Ich kann es nicht glauben. Ich sitze auf meinem Bett und warte. In meiner Jeanstasche ist der Plastikschlüssel. Die Klinge ist schon ziemlich stumpf. Aber besser als nichts.
    »Ben, kommst du? Wir machen einen Ausflug.«
    Einen Ausflug. So heißt das.
    Wir fahren schweigend. Ich habe die Ohrhörer auf dem Kopf, aber keine Musik an. Die Gegend kommt mir bekannt vor. Ich weiß nicht, woher. Ich wache auf, weil wir knirschend auf Steinen zum Stehen kommen.
    Wir sind an dem Zeltplatz. An dem Zeltplatz. Was soll das? Kleine Revival-Tour. Ich könnte kotzen. Mit steifen Beinen steige ich aus. Meine Eltern sind ein paar Meter
hinter mir. Ich gehe an den spießigen Wohnwagen mit den Plastikblumen auf Plastiktischchen
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