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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Autoren: Rudyard Kipling
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glücklich. Zwar sahen sie sich gezwungen, gelegentlich einmal eine Gesellschaft zu geben, aber sie schlössen sich niemandem an, und die Station ging ihre eigenen Wege und vergaß die beiden ganz; nur von Zeit zu Zeit bemerkte jemand so nebenbei: »die Maus« wäre ein vorzüglicher Kerl, aber ein wenig langweilig. Um die Wahrheit zu sagen, ein Zivilarzt, der sich mit jedem verträgt, ist eine Seltenheit und wird als solche entsprechend gewürdigt. Jedoch nur wenige Menschenkönnen es sich leisten, Robinson Crusoe zu spielen – am wenigsten in Indien, wo wir Europäer spärlich sind und ganz besonders von der Hilfsbereitschaft anderer abhängen. Dumoise tat unrecht, sich ein Jahr lang vor der Welt zu verschließen, und er entdeckte seinen Fehler, als mitten in der kalten Jahreszeit auf der Station eine Typhusepidemie ausbrach, an der auch seine Frau erkrankte. Dumoise war ein scheues, zurückhaltendes Kerlchen, und fünf Tage vergingen in Untätigkeit, ehe er erkannte, daß seine Frau an etwas Schlimmerem als einfachem Fieber ausbrannte, und drei weitere Tage verstrichen, bevor er es wagte, Mrs. Shute, die Frau des Ingenieurs, aufzusuchen und ihr schüchtern seine Not zu gestehen. Fast jeder Haushalt in Indien weiß, daß die Ärzte dort dem Typhus gegenüber machtlos sind. Der Kampf muß in solchen Fällen zwischen der Pflegerin und dem Tode ausgefochten werden, Minute für Minute, Grad für Grad. Mrs. Shute hätte Dumoise »wegen seiner verbrecherischen Saumseligkeit« auch fast geohrfeigt und machte sich unverzüglich auf den Weg, das arme Ding zu pflegen. In jenem Winter hatten wir in unserer Station verschiedene Typhusfälle, und da die durchschnittliche Sterbeziffer ungefähr fünf zu eins beträgt, waren wir überzeugt, jemanden unter uns verlieren zu müssen. Aber wir taten alle unser Möglichstes. Die Frauen wachten bei den Frauen, und die Männer machten sich ans Werk und pflegten die Junggesellen, die daniederlagen. Sechsundfünfzig Tage lang rangen wir mit jenen Fällen und brachten sie im Triumph durch das Tal der Schatten. Und gerade, als wir glaubten, nun wäre die Sache endlich vorbei und einen kleinen Ball geben wollten, um den Sieg zu feiern, bekam die kleine Mrs. Dumoise einen Rückfall und starb innerhalb einer Woche, und die Station ging statt dessen zu ihrem Begräbnis. Dumoise brach am Grabevollständig zusammen und mußte schließlich weggeführt werden.
    Nach dem Tode verkroch sich Dumoise in sein Haus und verweigerte jeden Trost. Er ging zwar nach wie vor gewissenhaft seinen Pflichten nach, aber wir alle hatten das Empfinden, daß er unbedingt Urlaub nehmen müsse, und seine Kollegen vom Dienst gaben ihm das auch zu verstehen. Dumoise bedankte sich sehr für ihren freundlichen Vorschlag – er war in jenen Tagen für alles dankbar – und ging auf eine Wandertour nach Chini. Chini liegt einige zwanzig Tagesmärsche von Simla entfernt im Herzen der Berge, und die dortige Szenerie ist sehr wohltuend für Menschen in innerlicher Not. Man wandert durch große, schweigende Deodarwälder am Fuße von großen, schweigenden Felsklippen und über große schweigende Almen, wogend und schwellend wie ein Frauenbusen, und der Regen, der auf die Deodare niederfällt, sagt: »Still, still, still.« So wurde der kleine Dumoise nach Chini expediert, um in Begleitung einer großen Plattenkamera und eines Jagdgewehrs seinen Kummer niederzukämpfen. Außerdem nahm er noch einen völlig überflüssigen Träger mit, weil der Bursche seiner Frau Lieblingsdiener gewesen war. Er war zwar ein Faulpelz und ein Dieb, aber Dumoise traute ihm rückhaltslos.
    Auf dem Rückwege von Chini machte Dumoise einen Abstecher nach Bagi durch die Waldschläge am Ausläufer des Mount Huttoo. Einige Menschen, die schon mehr als ein wenig in der Welt herumgekommen sind, behaupten, der Weg von Kotegarh nach Bagi sei einer der schönsten dieser Erde. Er führt durch dunkle, nasse Wälder und gipfelt ganz plötzlich in einem öden, kargen Berghang mit schwarzen Klippen. Der Bagi Dak-Bungalow ist gegen alle Stürme ungeschützt und bitter kalt. Nur wenige Menschen kommen nach Bagi; vielleicht war das der Grund, weshalb Demoisedort hinging. Er machte um sieben Uhr abends Rast, und sein Träger eilte den Berg hinunter ins Dorf, um für den nächsten Tagesmarsch Kulis zu engagieren. Die Sonne war bereits untergegangen und die Nachtwinde begannen zwischen den Felsen zu singen und zu summen. Dumoise lehnte sich gegen das Verandageländer und
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