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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Autoren: Rudyard Kipling
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Sie wollte diesen Engländer pflegen, bis er wohl genug war, sie zu heiraten. Das war ihr harmloser, kleiner Feldzugsplan.
    Nach vierzehntägigem leichten Wundfieber kam der Engländer zu vollem Bewußtsein und dankte dem Geistlichen, seiner Frau und Lispeth – besonders Lispeth – für ihre Güte. Er bereise den Osten, sagte er – von »Globetrottern« sprach man nicht in jenen Tagen, wo die junge P.&O. Linie noch klein war, – und sei von Dehra Dun gekommen, um in den Bergen von Simla Pflanzen und Schmetterlinge zu sammeln. In Simla kenne ihn daher niemand. Er glaube, er sei an der Felswand abgestürzt, als er an einem faulen Baumstamm nach einem Farn gegriffen; seine Kulis müßten wohl mit seinem Gepäck durchgegangen sein. Er wolle nach Simla zurück, sobald er sich etwas kräftiger fühle. Das Bergsteigen habe er satt.
    Seine Abreise beeilte er nicht gerade, und nur langsam kam er wieder zu Kräften. Lispeth ließ sich weder von dem Geistlichen noch von seiner Frau bereden; darum sprach diese mit dem Engländer und erzählte ihm, wie es um Lispeths Herz stand. Er lachte herzlich und fand die Sache sehr niedlich und romantisch, das reinste Himalaya-Idyll. Da er sich aber in der Heimat verlobt habe, würde hier wohl nichts passieren. Selbstredend würde er vorsichtig sein. Und er war es. Trotzdem fand er es sehr angenehm mit Lispeth zu plaudern, mit Lispeth spazieren zu gehen, ihr allerlei Liebes zu sagen, ihr Kosenamen zu geben und sich langsam zu erholen. Ihm bedeutete das alles gar nichts, Lispeth die ganze Welt. Sie war glücklich in diesen beiden Wochen, denn sie hatte den Mann gefunden, den sie lieben konnte.
    Als Kind der Wildnis gab sie sich keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Und dem Engländer machte das Spaß. Als er aufbrach, ging Lispeth mit ihm den Berg hinauf bis nach Narkunda, sehr, sehr unruhig und unglücklich. Die Frau des Geistlichen, als gute Christin abgeneigt gegen alles, was irgendwie Aufsehen oder gar Skandal erregen konnte mit Lispeth konnte sie gar nicht fertig werden – hatte dem Engländer geraten, er solle Lispeth sagen, daß er wiederkommen werde, um sie zu heiraten. »Sie ist das reinste Kind, wissen Sie, und, ich fürchte, im Grunde ihrer Seele eine Heidin,« sagte die Frau des Geistlichen. Darum versprach der Engländer auf dem zwölf Meilen langen Bergwege, den Arm um ihre Taille gelegt, daß er wiederkommen und sie heiraten werde; und Lispeth ließ es ihn immer wieder versichern. Sie weinte auf der Narkunda-Höhe, bis sie ihn auf dem Mutiana-Steig aus den Augen verlor.
    Dann trocknete sie ihre Tränen, ging zurück nach Kotgarh und sagte zu der Frau des Geistlichen: »Er kommtwieder und heiratet mich. Er ist nur zu seinen Landsleuten gegangen, um es ihnen zu sagen.« Und die Frau tröstete Lispeth und sagte: »Er kommt wieder.« Als der zweite Monat zu Ende ging, wurde Lispeth ungeduldig und erfuhr, daß der Engländer übers Meer nach England gereist sei. Sie wußte, wo England lag, weil es in ihrer kleinen geographischen Schulfibel stand. Aber sie hatte natürlich keinen Begriff vom Meer, da die Berge ihre Heimat waren. Im Hause hatte man eine alte zusammensetzbare Weltkarte. Lispeth hatte damit gespielt, als sie Kind war. – Nun holte sie sie wieder hervor, setzte sie an den Abenden zusammen, weinte für sich und suchte sich vorzustellen, wo ihr Engländer sei. Da sie weder von Entfernungen noch von Dampfern einen Begriff hatte, waren ihre Vorstellungen einigermaßen falsch. Es hätte auch nicht das geringste ausgemacht, wenn sie völlig richtig gewesen wären. Denn der Engländer dachte nicht daran, wiederzukommen und ein Mädchen der Berge zu heiraten. Er hatte sie und ihre Welt schon ganz vergessen, als er in Assam Schmetterlinge jagte. Später schrieb er ein Buch über den Osten, aber Lispeths Name stand nicht darin.
    Als der dritte Monat zu Ende ging, pilgerte Lispeth täglich nach Narkunda, um zu sehen, ob nicht ihr Engländer des Weges käme. Das gab ihr Trost, und die Frau des Geistlichen, die sie glücklicher fand, glaubte, daß sie ihre »barbarische und höchst unzarte Laune« überwunden habe. Bald darauf vermochten diese Gänge Lispeth nicht mehr zu trösten, und ihre Stimmung verschlimmerte sich sehr. Folglich hielt die Frau des Geistlichen die Zeit jetzt für geeignet, sie den wahren Stand der Dinge wissen zu lassen, – daß der Engländer ihr nur sein Wort gegeben hätte, um sie zu beruhigen, daß er keinerlei Absichten gehabt hätte, und daß es
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