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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Autoren: Rudyard Kipling
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denken. Er rauchte mehrere Pfund meines Tabaks und lehrte mich etliche Unzen kostbaren Wissens; niemals jedoch wollte er das geringste Geschenk annehmen, auch nicht, als das kalte Wetter kam und ihm unter den elenden, dünnen Alpaka-Rock mit Eisesfingern an die Brust griff. Er wurde sogar sehr böse und erklärte, ich hätte ihn beleidigt, und er dächte gar nicht daran, ins Krankenhaus zu gehen. Erhätte zwar wie ein Vieh gelebt, aber sterben wollte er als Mensch.
    Tatsächlich starb er auch an Lungenentzündung. In seiner Todesnacht schickte er mir ein schmutziges, kleines Billett mit der Bitte, herüberzukommen und ihm beim Sterben zu helfen.
    Die Inderin saß weinend neben seinem Bette. McIntosh, in ein dünnes Baumwolltuch gehüllt, war zu schwach, um wütend zu werden, als ich ihn mit einem Pelzmantel zudeckte. Geistig war er jedoch vollkommen rege, und seine Augen flammten. Nachdem er den Arzt in meiner Begleitung derart beschimpft hatte, daß der alte Herr empört wieder abzog, fluchte er eine Weile auf mich und beruhigte sich dann schließlich.
    Darauf befahl er seiner Frau, aus einem Loch in der Wand »das Buch« zu holen. Sie schleppte ein großes, in einem alten Unterrock eingewickeltes Bündel alter, kunterbunter Papiere herbei, die eng mit kleiner, zierlicher Schrift bedeckt waren. McIntosh fuhr mit der Hand liebevoll durch den alten Plunder.
    »Das hier,« sagte er, »ist mein Werk – das Buch McIntosh Jellaludins, in dem zu lesen ist, was er sah und was ihm und vielen anderen zustieß; gleichzeitig ist es eine Darstellung des Lebens, der Sünden und des Todes von Mutter Maturin. Was Mirza Murad Ali Begs Buch bedeutet, verglichen mit allen anderen Büchern über das Leben der Eingeborenen, das bedeutet mein Werk, verglichen mit dem von Mirza Murad Ali Beg!«
    Das ist, wie jeder Kenner von Mirza Murad Ali Begs Buch zugeben wird, eine kühne Behauptung. Die Papiere sahen nicht gerade kostbar aus, aber McIntosh überreichte sie mir, als wären sie lauter Banknoten. Dann fügte er langsam hinzu:
    »Trotz der zahlreichen Mängel Ihrer Erziehung haben Sie anständig an mir gehandelt. Ich werde Ihren Tabak erwähnen, wenn ich zu den Göttern eingehe. Ich bin Ihnen wegen vieler Freundlichkeiten zu großem Danke verpflichtet. Ich hasse jedoch Verpflichtungen. Aus diesem Grunde vermache ich Ihnen ein Monument dauernder als Erz – mein eigenes Buch – roh und unvollkommen in manchen Teilen, doch ach – selten und einzigartig in anderen. Ich bin gespannt, ob Sie es verstehen werden. Es ist eine Ehrengabe, größer als – – Pah, ich phantasiere wieder! Sie werden es natürlich entsetzlich verstümmeln. Sie als Philister werden die Edelsteine, die Sie ›Lateinische Zitate‹ nennen, ausmerzen und den Stil zerstückeln, bis er in Ihren eigenen, ungehobelten Jargon hineinpaßt; aber Sie werden das Ganze doch nicht umbringen können. Ich vermache es Ihnen. Ethel ... da, wieder geht mir mein Gehirn durch! Frau McIntosh, Du bist Zeugin, daß ich diesem Sahib hier alle meine Papiere übergebe. Sie würden dir nichts nützen, Herz meines Herzens; und Ihnen mache ich es zur Pflicht« – hier wandte er sich wieder an mich – »mein Buch in seiner jetzigen Gestalt nicht untergehen zu lassen. Sonst ist es bedingungslos Ihr Eigentum – die Geschichte McIntosh Jellaludins, die gar nicht die Geschichte McIntosh Jellaludins, sondern eines weit größeren Mannes und einer weit, weit größeren Frau ist! Hören Sie mich an! Ich bin weder wahnsinnig noch betrunken! Jenes Buch wird Sie berühmt machen.«
    Ich sagte »Danke«, als die Inderin mir das Bündel in die Arme legte.
    »Mein einziges Kind,« meinte McIntosh mit einem Lächeln. Es ging jetzt rasch bergab, aber er fuhr fort zu reden, solange er noch Atem hatte. Ich wartete auf das Ende; ich wußte, in neun Fällen von zehn verlangt ein Sterbendernach seiner Mutter. McIntosh drehte sich auf die Seite und sagte:
    »Erzählen Sie, wie es in Ihren Besitz gelangte. Zwar wird Ihnen niemand glauben, aber mein Name wird wenigstens weiterleben. Ich weiß, Sie werden es brutal behandeln. Ein Teil muß ja auch kassiert werden: die Menschen sind eine Herde Narren, prüder Narren obendrein. Ich stand einst in ihren Diensten. Aber gehen Sie bei ihren Verstümmelungen behutsam vor, recht behutsam. Es ist ein großes Werk und ich habe mit sieben Jahren der Verdammnis dafür bezahlt.«
    Zehn, zwölf Atemzüge lang schwieg er, dann begann er auf Griechisch eine Art Gebet zu murmeln.
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