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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz
Autoren: Davic Pfeifer
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er wackelt noch ein bisschen in den Knien und plumpst dann auf den Hintern. Nur um es erneut zu probieren.
    Ali beobachtet seine Frau, die sich zwischendurch in den Kinderwagen beugt. Sie trägt noch dieses rosige Leuchten im Gesicht, das sie während der Schwangerschaft bekommen hat. Sie ist erschöpft, aber glücklich. Keine postnatale Depression, wie Felix es ihm nüchtern erklärt hatte, schon gar keine Psychose. Das passiert ab und zu, man erkennt es wohl nicht immer rechtzeitig. Manche Frauen sind eben einfach nur erschöpft, andere werden depressiv, niemand trägt Schuld.
    Die Schaukel quietscht. Anna schreit vor Glück, aber auch vor Angst, wenn sie zu hoch fliegt. Es riecht nach trockenem Gras und Speiseeis. Ali vermisst Mert vor allem, wenn es besonders schön ist. Dann ertappt er sich bei dem Gedanken, dass Mert die besten Momente verpasst.
    Dieser schöne Mann, denkt Ali, wie er durch den Ring schritt, wie andere Männer an den Tresen. Beschwingt, mit Vorfreude, ohne Furcht. Mert war auf Androwitsch zugegangen, auf dieses Riesenbaby, und wollte nichts anderes als kämpfen. Mert bewegte sich mit einer Dynamik, die man nicht lernen kann. Sein Körper wusste, wohin er ausweichen musste, um nicht getroffen zu werden, wie er zurückschnellen musste, um mit maximaler Zerstörungskraft zu treffen. Ali hatte sich immer gewünscht, so zu boxen, nicht nach Lehrbuch, sondern nach einem uralten Muster. Androwitsch wirkte ungelenk, weil man nur das verunglückte Ende seiner Aktionen sah. Die Aufmerksamkeit lag auf Mert, der in seinem eigenen Rhythmus schlug, einen Tanz der Vernichtung aufführte, elegant und brutal. Ali hätte gerne einen Film von damals, er möchte noch einmal sehen, wie sein Freund gekämpft hat, der Krieger, die Dancing Queen.
    »Schon traurig, dass Mert sich einfach verdrückt hat«, sagt Ali.
    »In solchen Momenten ärgere ich mich über Nadja«, sagt Felix, »was sie alles verpasst.«
    Angelika ist mit den Nerven am Ende. Der Kleine balanciert sein Gewicht wie ein betrunkenes Elefantenbaby, sodass Annas Füße nur knapp über seinen Kopf hinwegsausen. Jörg hat die Gefahr erkannt und schiebt seine Schwester umso enthusiastischer an. Am obersten Punkt der Bewegung bleibt Anna wie schwerelos in der Luft hängen, die Ketten der Schaukel schlenkern schlaff. Dann reißt die Schwerkraft Anna wieder nach unten, die Ketten straffen sich scheppernd, während sie zurücksaust.
    Was Mert dem Kleinen wohl sagen würde?, denkt Ali. Je länger es zurückliegt, dass er Mert zum letzten Mal gesehen hat, desto mehr entgleitet er seiner Erinnerung. Er würde so gerne noch mal mit ihm sprechen, ein paar letzte, wichtige Fragen klären. Dass nur das Ungesagte bleibt, obwohl sie so viel gesprochen haben.
    Alis Frau stellt den Kinderwagen neben den Männern ab und eilt Angelika zu Hilfe, da weder Ali noch Felix Anstalten machen, die sich anbahnende Katastrophe abzuwenden. Anna wird auf der Schaukel langsam panisch. Angelika schimpft mit Jörg, der »Nur einmal noch, Mama!« ruft und seine Schwester besonders kräftig schubst. Anna saust nach vorne, der Kleine hat sich gerade zum ersten Mal ganz aufgerichtet und in den Knien stabilisiert. Im letzten Moment nimmt Anna die Beine auseinander, aber die Schaukel trifft den Kleinen am Kopf. Er fällt auf den Rücken.
    »Ali!«, kreischt Angelika. Der große Ali zuckt zusammen. Felix klopft ihm auf die Schulter.
    »Alter, jedes Mal derselbe Scheiß«, sagt Ali, »der Junge ist gerade mal Vierteltürke, kann der nicht Karl-Heinz heißen?«
    »War nicht meine Idee«, sagt Felix.
    »Weiß ich ja.«
    Alis Frau kramt in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Der Kleine rappelt sich auf, er blutet an der Augenbraue.
    »Hat Herz, der Kleine«, sagt Ali. Felix nickt.
    Angelika will den Jungen hochheben, erntet jedoch einen finsteren Blick. Sie erschrickt und zuckt zurück. Dann versucht der kleine Ali wieder aufzustehen, streckt die Arme aus und lächelt Angelika schief an. Alles liegt noch vor ihm.
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