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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz
Autoren: Davic Pfeifer
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Er arbeitet in hoher Geschwindigkeit und mit viel Kraft, baut jedoch nicht ab, weder am Ende der ersten noch am Ende der zweiten Runde. Mert findet keine Lücke für Treffer, keine Schwächeperiode, in der er den Mann überrennen könnte. Mert versucht es mit Gewalt, geht einfach in die Nahdistanz und schlägt los. Aber er wird selbst hart getroffen, in der dritten Runde geht er fast zu Boden, nachdem Gordon ihm sein Knie an den Kiefer rammt. Das Publikum schreit und jubelt durcheinander, die Buchmacher rasen von einer Bank zur nächsten.
    Zuschauer bei einem Boxkampf beklatschen stets den Kämpfer, der hinten liegt. Derjenige, der sich als besonders leidensfähig erweist, wird zum Helden. Wenn einer einstecken kann, blutet und weitermacht, wenn er versucht, die Realität zu verbiegen, gewinnt er die Herzen. In keiner anderen Disziplin wird der Unterlegene so verehrt wie im Boxen.
    Mert will nicht verlieren, unter keinen Umständen. Nicht dass er jemals verlieren wollte. Er war immer überzeugt, gewinnen zu können, auch wenn die Chancen gegen ihn standen. Aber heute spürt er, dass sein Leben davon abhängt. Wenn er verliert, kann er nicht abtreten. Nok versucht in der Rundenpause ruhig zu bleiben, doch gerade das signalisiert Mert, wie ernst seine Lage ist. In der Pause zur vierten Runde stürzt Nok fast mit dem Schemel in den Ring und lässt den herausgenommenen Mundschutz fallen. Als der Kampf weitergeht, bemerkt Mert eine Erschöpfung, die tief aus seinem Inneren kommt. Von dort, wo ein alter Käfig steht, mit verbogenen Gittern. Wo das Räderwerk langsam ausläuft und sich nur weiterbewegt, weil im letzten Glied der Kette noch nicht angekommen ist, dass das entscheidende Zahnrad zersprungen ist, dass die Kraft nicht mehr umgeleitet wird. Noch bewegt sich die Maschine, ein bisschen Energie bleibt. Vielleicht reicht sie für zehn Schläge, vielleicht für hundert. Doch dann wird endgültig Schluss sein. Gordon empfängt Mert mit einem Tritt zur Schläfe, er versucht zum Ende zu kommen. Mert würde es nicht anders machen, wenn er noch jung wäre und alles noch vor sich hätte. »Nicht nur siegen, sondern überzeugend siegen«, hört Mert wie ein Echo aus seiner Jugend. Mert stellt sich in die Ecke, nimmt die Fäuste zur Doppeldeckung hoch, die alten Reflexe setzen sich durch. Er weicht den Tritten nicht aus, sondern wartet nur ab, bis er wieder klar sehen kann. Gordon tritt und schlägt nach ihm, Mert spürt Treffer, aber er geht nicht zu Boden. Es tut nicht mal weh. Er versucht ab und zu einen Schlag, nur damit der Ringrichter den Kampf nicht abbricht. Er wird nicht zu Boden gehen. Er hat einige Kämpfe verloren, wichtige und weniger wichtige. Aber er ist nie zu Boden gegangen. Nie hat er diese Erniedrigung erlebt, er wird heute nicht damit anfangen. Selbst als er zum Herz getroffen wurde, blieb er geschlagen stehen. Mert dreht sich aus der Ecke, nur um gleich wieder festgenagelt zu werden. Er hat kein Gefühl für die Zeit. Normalerweise weiß er die Unendlichkeit, zu der sich drei Minuten ausdehnen, in Einheiten zu unterteilen. Er wird immer ruhiger, fast zufrieden, während sich dieser Gordon an ihm abarbeitet. Und dann, am untersten Punkt seiner Ruhe, trifft Mert ein bekanntes Gefühl. Er bekommt Angst. Angst vor der Niederlage, Angst vor Ross Gordon, Angst vor dem Ende. Angst, dass er sich selbst der größte Feind ist. Und diese Angst steigt auf, durchflutet seinen Körper und dringt schließlich aus jeder Pore nach draußen, wo sie auf seinen Gegner überspringt. Ross Gordon ist jung, er kann die Angst nicht einordnen. Er riecht die Angst, atmet sie ein, zieht sie in seine Lungen. Und dann ist sie in ihm, plötzlich und überwältigend. Er lässt sich Merts Angst überstülpen. Wie einst Piotr Androwitsch und viele andere danach verliert Gordon den Überblick, als Mert noch einmal auf ihn losgeht, einen Angriff entfesselt, der in Wahrheit immer die Flucht vor seiner eigenen Angst war.
    Mert verunsichert Gordon, und diese Unsicherheit reicht aus, um auch bessere Boxer aus dem Tritt zu bringen. Gordon verliert seinen Rhythmus und weiß nicht, warum. Er spürt nur, dass er vorsichtig sein sollte. Gordons Aktionen werden zaghafter, und dann lächelt Mert. Er lächelt ein schiefes Lächeln und geht auf Gordon los, mit den letzten Schlägen, die er noch in sich hat. Er drückt den großen Mann in die Seile, schlägt zwei Serien, nicht sehr schnell, aber hart und genau. Mert kämpft mit dem Antrieb eines
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