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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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»Winke?«
      »In bezug auf dich, auf deinen Platz im großen Plan.«
      »Nein.«
      »Vielleicht wird es anders, wenn erst einmal das Kind«
      – er deutet so dezent wie möglich auf seine Tochter, auf ihren Körper – »geboren ist. Es wird schließlich ein Kind dieser Erde sein. Das werden sie nicht leugnen können.«
       
     
      Sie schweigen lange.
      »Liebst du ihn schon?«
      Obwohl das seine Worte sind, aus seinem Mund, überraschen sie ihn.
      »Das Kind? Nein. Wie könnte ich? Aber ich werde es lieben. Liebe wird sich entwickeln – in dieser Frage kann man auf Mutter Natur vertrauen. Ich bin entschlossen, eine gute Mutter zu sein, David. Eine gute Mutter und ein guter Mensch. Du solltest auch versuchen, ein guter Mensch zu sein.«
      »Ich befürchte, für mich ist es zu spät. Ich bin bloß ein alter Knastbruder, der seine Strafe absitzt. Aber bei dir heißt es: Nur zu! Du bist auf dem richtigen Weg.«
      Ein guter Mensch. Dieser Vorsatz ist in finsteren Zeiten nicht schlecht.
      Wie unausgesprochen vereinbart, besucht er vorläufig die Farm seiner Tochter nicht. Trotzdem fährt er an einem Wochentag die Straße nach Kenton hinaus, läßt den Laster am Abzweig stehen und läuft den restlichen Weg, nicht auf dem Weg, sondern quer übers Veld.
      Vom letzten Hügelrücken sieht er die Farm vor sich liegen: das alte Haus, solide, wie eh und je, die Ställe, Petrus’ neues Haus, das alte Reservoir, auf dem er Punkte erkennen kann, das müssen die Enten sein, und größere Punkte, das müssen die Wildgänse sein, Lucys weither gereiste Gäste.
      In dieser Entfernung sind die Blumenbeete kompakte Farbblöcke: fuchsrot, blutrot, taubenblau. Eine blühende Jahreszeit. Die Bienen müssen im siebenten Himmel sein.
      Von Petrus ist nichts zu sehen, auch nicht von seiner Frau oder dem Schakal-Jungen, der zu ihrer Sippe gehört.
      Aber Lucy arbeitet in den Blumenbeeten; und als er sich den Hang hinunter einen Weg sucht, erkennt er auch die Bulldogge, ein rehbrauner Fleck auf dem Weg neben ihr.
      Er kommt am Zaun an und bleibt stehen. Lucy hat ihm den Rücken zugekehrt und ihn noch nicht entdeckt.
      Sie trägt ein helles Sommerkleid, Stiefel und einen breitkrempigen Strohhut. Während sie sich nach vorn beugt, verschneidet, stutzt oder anbindet, kann er ihre milchige, blaugeäderte Haut und die breiten, verletzlichen Sehnen in den Kniekehlen sehen: der am wenigsten schöne Körperteil einer Frau, der am wenigsten ausdrucksvolle, und daher vielleicht der anrührendste.
      Lucy richtet sich auf, streckt sich, bückt sich wieder.
      Feldarbeit; bäuerliche Aufgaben, seit undenklichen Zeiten. Seine Tochter wird zur Bäuerin.
      Sie hat seine Anwesenheit noch immer nicht mitbekommen. Und der Wachhund, der Wachhund döst offenbar.
      Also: einst war sie ein Wurm im Körper ihrer Mutter, und nun ist sie hier, eine solide Existenz, solider, als er je gewesen ist. Wenn sie Glück hat, wird sie lange leben, noch lange nach ihm. Wenn er tot ist, wird sie, wenn sie Glück hat, immer noch hier ihre alltäglichen Aufgaben in den Blumenbeeten erfüllen. Und aus ihr wird eine andere Existenz hervorgegangen sein, die mit etwas Glück genauso solide, genauso langlebig sein wird. So wird es fortgehen, eine Reihe von Existenzen, bei denen sein Anteil, seine Gabe, unerbittlich abnehmen wird, bis er so gut wie vergessen ist.
      Ein Großvater. Ein Joseph. Wer hätte das gedacht! Welches hübsche Mädchen wird wohl mit einem Großvater ins Bett gehen?
      Leise ruft er ihren Namen. »Lucy!«
       
     
      Sie hört ihn nicht.
      Was wird es mit sich bringen, Großvater zu sein? Als Vater hat er kein Ruhmesblatt geschrieben, obwohl er sich mehr Mühe gegeben hat als die meisten. Als Großvater wird er wahrscheinlich auch unter dem Durchschnitt bleiben. Ihm fehlen die Tugenden der Alten: Gleichmut, Freundlichkeit, Geduld. Aber vielleicht kommen ja diese Tugenden, während andere sich verabschieden: die Tugend der Leidenschaft, zum Beispiel. Er muß sich wieder einmal mit Victor Hugo, dem Dichter des Großvatertums, beschäftigen. Vielleicht kann man bei ihm etwas lernen.
      Der Wind legt sich. Es folgt ein Moment der völligen Stille, den er ewig ausdehnen möchte: die sanfte Sonne, die nachmittägliche Stille, Bienen, geschäftig im Blumenbeet; und im Mittelpunkt des Bildes eine junge Frau, das ewig Weibliche, leicht schwanger, mit einem Strohhut. Eine Szene, wie geschaffen für einen Sargent oder einen
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