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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Bonnard. Stadtmenschen wie er; aber sogar Stadtmenschen können Schönheit erkennen, wenn sie auf sie stoßen, und es kann ihnen den Atem verschlagen.
      In Wahrheit hat er kaum ein Auge für das Landleben gehabt, trotz seiner ausführlichen Lektüre von Wordsworth. Kaum ein Auge für etwas anderes als für hübsche Mädchen; und wohin hat ihn das geführt? Ist es zu spät, um das Auge zu schulen?
      Er räuspert sich. »Lucy«, sagt er, etwas lauter.
      Der Zauber ist gebrochen. Lucy richtet sich auf, dreht sich halb um, lächelt. »Hallo«, sagt sie. »Ich habe dich nicht gehört.«
      Katy hebt den Kopf und starrt kurzsichtig in seine Richtung.
       
     
      Er klettert durch den Zaun. Katy trottet schwerfällig zu ihm hin, beschnüffelt seine Schuhe.
      »Wo ist der Pickup?« fragt Lucy. Sie ist von der Arbeit gerötet und vielleicht ein bißchen sonnenverbrannt. Sie sieht plötzlich wie das blühende Leben aus.
      »Ich habe ihn abgestellt und einen Spaziergang gemacht.«
      »Willst du reinkommen und eine Tasse Tee trinken?«
      Sie macht das Angebot, als sei er ein Besucher. Gut.
      Ein Besucher, ein Gast, der kommt und wieder geht – ein neues Verhältnis, ein neuer Anfang.
       
     
      Es ist wieder Sonntag. Bev Shaw und er praktizieren wieder einmal ihre spezielle Methode zur Problemlösung.
      Eine nach der anderen bringt er die Katzen herein, dann sind die Hunde dran: die alten, die blinden, die schwachen, die verkrüppelten, die verstümmelten, aber auch die jungen, die gesunden – alle, deren Zeit gekommen ist.
      Bev berührt die Tiere eines nach dem anderen, spricht mit ihnen, tröstet sie und schläfert sie ein, dann tritt sie zurück und sieht zu, während er die Überreste in einen schwarzen Leichensack aus Plastik verpackt.
      Er und Bev sprechen nicht miteinander. Inzwischen hat er gelernt, von ihr, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Tier, das sie töten, zu konzentrieren und ihm das zu geben, was er nun ohne Mühe bei seinem richtigen Namen nennt: Liebe.
      Er verschließt den letzten Sack und schafft ihn zur Tür.
      Dreiundzwanzig. Es ist nur noch der junge Hund da, das Tier, das Musik liebt, das, wenn man ihm nur die geringste Gelegenheit gegeben hätte, schon seinen Kameraden nachgehoppelt wäre, hinein in das Klinikgebäude, in das Behandlungszimmer mit seinem verzinkten Tisch, wo die starken, vermischten Gerüche noch im Raum hängen, einschließlich des einen, dem er in seinem Leben noch nicht begegnet sein wird – dem Geruch des Todes, dem sanften, kurzlebigen Geruch der befreiten Seele.
      Was der Hund nicht herausfinden kann (nicht in einem Monat voller Sonntage! denkt er), was ihm seine Nase nicht sagen wird, ist, wie man in einen offenbar gewöhnlichen Raum hineingehen kann und nie wieder herauskommt.
      In diesem Raum geschieht etwas, etwas Unaussprechliches: hier wird die Seele aus dem Körper gerissen; sie hängt kurz in der Luft herum, windet und verrenkt sich; dann wird sie fortgezogen und ist verschwunden. Das kann er nicht begreifen, diesen Raum, der kein Raum, sondern ein Loch ist, wo das Leben aus einem herausläuft.
      Es wird immer schwerer, hat Bev Shaw einmal gesagt.
      Schwerer, doch auch leichter. Man gewöhnt sich daran, daß alles schwerer wird; man ist nicht mehr überrascht, daß etwas, das so schwer wie nur irgend möglich war, immer noch schwerer wird. Er kann den jungen Hund noch eine Woche aufsparen, wenn er will. Aber es muß eine Zeit kommen, man kann ihr nicht entgehen, wenn er ihn Bev Shaw in ihr Behandlungszimmer bringen muß (vielleicht wird er ihn in den Armen tragen, vielleicht wird er das für ihn tun). Dann wird er ihn streicheln und das Fell zurückstreichen, damit die Nadel die Vene finden kann, und mit ihm flüstern und ihn stützen in dem Moment, wenn zu seinem Erstaunen seine Beine nachgeben; und dann, wenn die Seele den Körper verlassen hat, wird er ihn zurechtlegen und in seinen Sack stecken und den Sack am nächsten Tag in die Flammen schicken und dafür sorgen, daß er verbrennt, völlig verbrennt. Das alles wird er für ihn tun, wenn seine Zeit gekommen ist. Das ist wenig genug, weniger als wenig – nichts.
      Er geht durch das Behandlungszimmer. »War das der letzte?« fragt Bev Shaw.
      »Noch einer.«
      Er öffnet die Käfigtür. »Komm«, sagt er, beugt sich hinunter, öffnet die Arme. Der Hund wedelt mit dem verkrüppelten Hinterteil, er beschnüffelt ihm das Gesicht, leckt ihm die Wangen, die Lippen, die
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