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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen
Autoren: B Apitz
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Die Bäume auf dem Gipfel des Ettersberges troffen vor Nässe und ragten reglos in das Schweigen hinein, das den Berg umhüllte und ihn absonderte von der Landschaft ringsum. Laub, vom Winter ausgelaugt und verbraucht, moderte nass glänzend am Boden.
    Hier kam der Frühling nur zögernd herauf.
    Schilder, zwischen den Bäumen aufgestellt, schienen ihn zu warnen.
    »Kommandanturbereich des Konzentrationslagers Buchenwald. Achtung, Lebensgefahr! Beim Weitergehen wird ohne Anruf scharf geschossen.« Darunter ein Totenkopf und zwei sich kreuzende Knochen als Signum.
    Der ewige Nebelregen klebte auch an den Mänteln der fünfzig SS-Leute, die an diesem Spätnachmittag des März 1945 auf der betonierten Plattform standen, die von einem Regendach geschützt wurde. Diese Plattform, Bahnhof Buchenwald genannt, war das Ende des Eisenbahngleises, das von Weimar nach dem Gipfel des Berges führte. In der Nähe befand sich das Lager.
    Auf seinem weitgestreckten, nach Norden hin abfallenden Appellplatz waren die Häftlinge zum Abendappell angetreten. Block neben Block, Deutsche, Russen, Polen, Franzosen, Juden, Holländer, Österreicher, Tschechen, Bibelforscher, Kriminelle …, eine unübersehbare Masse, zu einem exakt ausgerichteten Riesenquadrat zusammenkommandiert.
    Heute gab es unter den angetretenen Häftlingen ein heimliches Geflüster. Irgendwer hatte die Nachricht mit ins Lagergebracht, die Amerikaner hätten bei Remagen den Rhein überschritten …
    »Weißt du es schon?«, wurde Herbert Bochow von Runki, dem Blockältesten, gefragt, neben dem er im ersten Glied des Blocks 38 stand. Bochow nickte. »Sie sollen einen Brückenkopf gebildet haben.«
    Schüpp, im zweiten Glied hinter den beiden stehend, mischte sich in das Geflüster: »Remagen? – Ist noch weit weg.« Er bekam keine Antwort. Nachdenklich blinzelte er in Bochows Nacken hinein. Auf dem stets treuherzig-erstaunten Gesicht des Lagerelektrikers Schüpp mit dem runden Mund und den kugligen Augen hinter runder, schwarz gefasster Brille lag das Erregende der Neuigkeit. Auch andere Häftlinge im Block flüsterten miteinander, und Runki brach das Getuschel mit einem gezischelten »Achtsehn« ab. Die Blockführer, SS-Leute der unteren Dienstgrade, kamen von oben herab und verteilten sich auf die einzelnen der angetretenen Blocks, die ihnen unterstanden. Das Geflüster erstarb, und die Erregung verkroch sich hinter den starren Gesichtern.
    Remagen!
    Es war tatsächlich noch weit weg von Thüringen.
    Immerhin. Die Front im Westen war durch die entscheidende Winteroffensive der Roten Armee, die über Polen hinweg nach Deutschland eingedrungen war, in Bewegung geraten.
    Nichts drückte in den Gesichtern der Häftlinge aus, wie sehr die Nachricht sie bewegte.
    Schweigend standen sie auf Vordermann und Seitenrichtung, und ihre Blicke folgten {heimlich} den Blockführern, die die Blocks abgingen und die Häftlinge zählten. Gleichmütig wie an jedem Tag. – Oben am Tor gab Krämer, der Lagerälteste, die Liste mit dem Gesamtbestand des Lagers beim Rapportführer ab und stellte sich, wie es Vorschrift war, gesondertvor dem Riesenquadrat auf. Auch auf seinem Gesicht lag die Undurchdringlichkeit, obwohl seine Gedanken die gleichen waren wie die der Zehntausenden hinter ihm.
    Längst schon hatten die einzelnen Blockführer ihre Meldungen bei Reineboth, dem Rapportführer, abgegeben und sich in losen Reihen am Tor aufgestellt. Es dauerte trotzdem noch eine Stunde, bis die Zahlen stimmten. Endlich trat Reineboth ans Stativmikrophon.
    »Fertig – stillgestanden!«
    Das Riesenquadrat erstarrte.
    »Mützen – ab!«
    Auf einen Schlag rissen die Häftlinge die speckigen Mützen vom Kopf. Am schmiedeeisernen Tor stand Kluttig, der zweite Lagerführer, und ließ sich von Reineboth den Rapport machen.
    Lässig hob er den rechten Arm. –
    Seit Jahren war das so.
    In Schüpps Gehirn hatte die Neuigkeit inzwischen keine Ruhe gelassen. Er konnte den Mund nicht halten und quetschte aus dem Mundwinkel heraus in Bochows Genick: »Denen da oben wird der Arsch bald mit Grundeis gehen …«
    Bochow versteckte sein Lächeln in der faltigen Haut des unbeweglichen Gesichts. –
    Reineboth trat wieder zum Mikrophon.
    »Mützen – auf!«
    Ein Ruck! Die Speckdeckel flogen auf den Kopf zurück, wie sie im Schwung zu liegen kamen, schief nach vorn, nach hinten, nach der Seite – und die Häftlinge sahen lustigen Brüdern ähnlich. Weil militärische Exaktheit hier zur Komik ausartete, hatte sich
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