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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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eigentlich ein ziemlich ruhiges Naturell, ruhig und fügsam. Ihre allgemeinen Ansichten sind überraschend sittenstreng. Touristinnen, die an öffentlichen Stränden ihre Brüste zeigen (sie sagt »Euter« dazu), stören sie; sie meint, daß man Stadtstreicher zusammentreiben und zum Straßenkehren anstellen sollte. Er fragt sie nicht, wie sie ihre Ansichten mit ihrem Gewerbe vereinbaren kann.
      Weil er Freude an ihr hat und weil sich diese Freude stets einstellt, hat sich bei ihm eine Zuneigung für sie entwickelt. Diese Zuneigung wird in gewissem Maße erwidert, glaubt er. Zuneigung ist vielleicht nicht dasselbe wie Liebe, doch sie ist wenigstens mit ihr verwandt. Wenn man bedenkt, wie wenig aussichtsreich das alles begonnen hat, dann haben sie beide Glück gehabt: er, daß er sie gefunden hat, sie, daß sie ihn gefunden hat.
      Er weiß, daß seine Haltung selbstgefällig ist, vielleicht ist er sogar vernarrt in sie. Trotzdem ändert er seine Haltung nicht.
      Für ein Zusammensein von neunzig Minuten zahlt er ihr 400 Rand, wovon die Hälfte an den Diskreten Begleitservice geht. Ihm scheint es ungerecht, daß der Diskrete Begleitservice so viel bekommt. Aber ihm gehört Nr. 113 und andere Wohnungen in den Windsor Mansions; in gewissem Sinn gehört ihm auch Soraya, dieser Teil von ihr, diese Funktion.
      Er hat mit der Idee gespielt, sie zu bitten, ihn privat zu empfangen. Er würde gern einen Abend mit ihr verbringen, vielleicht sogar eine ganze Nacht. Aber nicht den Morgen danach. Er kennt sich zu gut, als daß er ihr den Morgen danach zumuten würde, wenn er kalt und mürrisch ist und es nicht erwarten kann, allein zu sein.
      Das ist sein Temperament, und das wird sich nicht ändern, dafür ist er zu alt. Sein Temperament ist festgelegt, fixiert. Der Schädel, und gleich danach das Temperament – das sind die zwei härtesten Teile des Körpers.
      Vertrau deinem Temperament. Das ist keine Philosophie, so hoch würde er das nicht bewerten. Es ist eine Regel, wie die Regel des heiligen Benedikt.
      Er ist gesund, sein Geist ist klar. Von Beruf ist er Wissenschaftler – oder war es, und die Wissenschaft zieht ihn von Zeit zu Zeit noch ganz in ihren Bann. Sein Leben spielt sich im Rahmen seines Einkommens, seines Temperaments, seiner emotionalen Möglichkeiten ab. Ob er glücklich ist? Nach den meisten Wertmaßstäben, ja, er glaubt es jedenfalls. Doch er hat den Schlußchor des »Ödipus« nicht vergessen:  »Darum preis ich niemals glücklich eines Sterblichen Geschick, Eh’ den letzten seiner Tage er gesehn hat.«  [1]
      Im sexuellen Bereich ist sein Temperament zwar lebhaft, aber nie leidenschaftlich gewesen. Wenn er sich ein Totem wählen müßte, würde es die Schlange sein. Den Verkehr zwischen Soraya und ihm stellt er sich ungefähr wie das Kopulieren von Schlangen vor: ausgedehnt, vertieft, doch ziemlich abstrakt, ziemlich nüchtern, selbst im heißesten Moment.
      Ist Sorayas Totem auch die Schlange? Fraglos wird sie bei anderen Männern zu einer anderen Frau: la donna è mobile. Aber auf der Ebene des Temperaments ist ihre Wesensverwandtschaft mit ihm bestimmt nicht vorgetäuscht.
      Obwohl sie durch ihr Gewerbe eine liederliche Frau ist, vertraut er ihr, innerhalb gewisser Grenzen. Während ihrer Zusammenkünfte spricht er relativ offen mit ihr, spricht sich manchmal sogar bei ihr aus. Sie kennt die grundlegenden Dinge seines Privatlebens. Sie hat die Geschichten seiner beiden Ehen gehört, weiß von seiner Tochter und ihrem wechselhaften Geschick. Sie kennt viele seiner Ansichten.
       
     
      Von ihrem Leben außerhalb der Windsor Mansions verrät Soraya nichts. Soraya ist nicht ihr wirklicher Name, da ist er sich sicher. Es gibt Anzeichen dafür, daß sie ein Kind, oder Kinder, zur Welt gebracht hat. Vielleicht ist sie überhaupt keine Professionelle. Mag sein, sie arbeitet nur ein oder zwei Nachmittage für die Agentur und führt sonst ein anständiges Leben in den Vororten, in Rylands oder Athlone. Für eine Muslimin wäre das ungewöhnlich, aber heutzutage ist alles möglich.
      Von seiner Arbeit erzählt er wenig, da er sie nicht langweilen will. Er verdient seinen Lebensunterhalt an der Cape Technical University, dem früheren Cape Town University College. Als ehemaliger Professor für moderne Sprachen ist er seit der im Zuge der großen Rationalisierung erfolgten Schließung des Fachbereichs klassische und moderne Sprachen außerordentlicher Professor für
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