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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Studentin, seiner Obhut anvertraut. Egal, was zwischen ihnen jetzt geschieht, sie werden als Lehrer und Schüler wieder zusammenkommen müssen. Ist er darauf vorbereitet?
      »Macht Ihnen das Seminar Spaß?« fragt er.
      »Mir hat Blake gefallen. Und die Wonderhorn-Sache.«
      »Wunderhorn.«
      »Auf Wordsworth bin ich nicht so scharf.«
      »Das sollten Sie nicht gerade mir sagen. Wordsworth ist einer meiner Lehrmeister gewesen.«
      Das ist wahr. So lange er sich erinnern kann, haben die Harmonien des Präludiums in ihm ihren Widerhall gefunden.
      »Vielleicht gefällt er mir nach dem Seminar besser.
      Vielleicht finde ich noch Geschmack daran.«
      »Vielleicht. Aber nach meiner Erfahrung sprechen einen Gedichte entweder beim ersten Kennenlernen an oder überhaupt nicht. Eine plötzliche Offenbarung und eine spontane Reaktion darauf. Wie wenn ein Blitz einschlägt. Wie wenn man sich plötzlich verliebt.«
      Wie wenn man sich plötzlich verliebt. Verlieben sich die jungen Leute noch, oder ist dieser Mechanismus inzwischen überholt, unnötig, kurios, wie die Fortbewegung mit Dampfkraft? Er ist nicht auf dem laufenden, schlecht informiert. Sich zu verlieben könnte unmodern geworden und etliche Male wieder in Mode gekommen sein, wenn es nach ihm ginge.
      »Schreiben Sie selbst Gedichte?« fragt er.
      »Früher ja, in der Schule. Es war nichts Besonderes.
      Jetzt habe ich keine Zeit dazu.«
       
     
      »Und Leidenschaften? Haben Sie irgendeine literarische Leidenschaft?«
      Bei dem seltsamen Wort runzelt sie die Stirn. »Im zweiten Studienjahr haben wir Adrienne Rieh und Toni Morrison behandelt. Und Alice Walker. Das fand ich ziemlich spannend. Aber eine Leidenschaft würde ich das nicht nennen.«
      Also kein leidenschaftlicher Mensch. Will sie ihn in der denkbar indirektesten Art abschrecken?
      »Ich mache schnell was zu essen«, sagt er. »Darf ich Sie einladen? Es wird etwas ganz Einfaches.«
      Sie wirkt unschlüssig.
      »Kommen Sie!« sagt er. »Sagen Sie ja!«
      »Gut. Aber ich muß erst telefonieren.«
      Das Gespräch dauert länger, als er erwartet hat. Von der Küche aus hört er sie leise reden, schweigen.
      »Was haben Sie beruflich vor?« fragt er sie später.
      »Dramaturgie und Bühnenbild. Ich mache ein Diplom im Theaterfach.«
      »Und warum belegen Sie ein Seminar über Dichtung der Romantik?«
      Sie denkt nach, zieht die Nase kraus. »Ich habe es hauptsächlich wegen der Atmosphäre gewählt«, sagt sie.
      »Ich wollte nicht noch einmal Shakespeare belegen.
      Shakespeare habe ich schon letztes Jahr gemacht.«
      Was er auf die Schnelle zubereitet, ist wirklich ganz schlicht: Anchovis auf Tagliatelle mit einer Pilzsauce. Er läßt sie die Pilze schneiden. Die übrige Zeit sitzt sie auf einem Hocker und sieht zu, während er kocht. Sie essen im Wohnzimmer und machen eine zweite Flasche Wein auf. Sie langt ordentlich zu. Ein gesunder Appetit für eine so zarte Person.
       
     
      »Kochen Sie immer für sich?« fragt sie.
      »Ich lebe allein. Wenn ich nicht koche, tut’s sonst keiner.«
      »Ich hasse Kochen. Wahrscheinlich sollte ich’s lernen.«
      »Warum? Wenn Sie wirklich keine Lust dazu haben, dann heiraten Sie doch einen Mann, der kocht.«
      Zusammen malen sie sich das Bild aus: die junge Frau mit den feschen Sachen und dem protzigen Schmuck kommt zur Haustür herein und schnuppert ungeduldig; der Gatte, der farblose Mr. Right, steht mit Schürze in der dampfigen Küche und rührt in einem Topf. Rollentausch: der Stoff für die bürgerliche Komödie.
      »Das ist alles«, sagt er zum Schluß, als die Schüssel leer ist. »Kein Nachtisch, wenn Sie nicht einen Apfel oder etwas Joghurt wollen. Tut mir leid – ich wußte nicht, daß ich einen Gast haben würde.«
      »Es war gut«, sagt sie, leert ihr Glas und steht auf. »Vielen Dank.«
      »Gehen Sie noch nicht.« Er nimmt ihre Hand und führt sie zum Sofa. »Ich möchte Ihnen was zeigen. Gefällt Ihnen Tanz? Nicht Tanzen. Tanz.« Er schiebt eine Kassette in das Videogerät. »Das ist ein Film von einem gewissen Norman McLaren. Der Film ist ziemlich alt. Ich habe ihn in der Bibliothek gefunden. Sehen Sie mal, was Sie davon halten.«
      Sie sitzen nebeneinander und schauen zu. Zwei Tänzer auf einer leeren Bühne vollführen ihre Schrittfolgen. Von einer stroboskopischen Kamera aufgezeichnet, fächern sich ihre Abbilder, Geister ihrer Bewegungen, hinter ihnen wie Flügelschläge auf.
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