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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Ampel nimmt er ihre kalte Hand in seine. »Melanie!« sagt er und versucht, einen leichten Ton beizubehalten. Aber er hat vergessen, wie man um eine Frau wirbt. Die Stimme, die er hört, gehört einem überredenden Vater, keinem Liebhaber.
      Er hält vor ihrem Wohnblock. »Danke«, sagt sie und öffnet die Wagentür.
      »Nimmst du mich nicht mit hinein?«
      »Wahrscheinlich ist meine Mitbewohnerin da.«
      »Wie steht’s mit heute abend?«
      »Heute abend habe ich Probe.«
      »Wann sehe ich dich also wieder?«
      Sie antwortet nicht. »Danke«, wiederholt sie und schlüpft hinaus.
       
     
      Am Mittwoch ist sie im Seminar auf ihrem üblichen Platz.
      Sie sind immer noch bei Wordsworth, beim sechsten Buch des »Präludiums«, der Dichter in den Alpen.
      » Noch am gleichen Tag « [3], liest er laut vor,
»Erschauten wir von einem kahlen Felsenkamm 
    Zum erstenmal den Gipfel des Montblanc, 
    Befreit von allen Wolkenschleiern, und
    Beklagten, daß der bloße Augeneindruck, 
    Das nackte, seelenlose Sinnes-Bild,
    Einen lebend’gen Phantasiegedanken
    Usurpierte und für immer uns entriß.
      So. Der majestätische weiße Berg Montblanc stellt sich als Enttäuschung heraus. Warum? Wir wollen von dem ungewöhnlichen Verb usurpieren ausgehen. Hat das jemand im Wörterbuch nachgeschlagen?«
      Schweigen.
      »Wenn Sie es getan hätten, hätten Sie herausgefunden, daß usurpieren › widerrechtlich an sich reißen, erobern‹ heißt.
      Die Wolkendecke hob sich, sagt Wordsworth, der Gipfel wurde entschleiert, und wir beklagten, daß wir ihn sahen. Eine seltsame Reaktion für einen, der die Alpen bereist. Warum sollte er klagen? Weil, so sagt er, ein seelenloses Sinnes-Bild, ein bloßes Abbild auf der Netzhaut, das erobert hat, was bisher ein lebendiger Phantasiegedanke gewesen ist. Was war dieser lebendige Phantasiegedanke?«
      Wieder Schweigen. Sogar die Luft, in die er spricht, ist lustlos und schlaff. Ein Mann, der einen Berg betrachtet – warum muß es so kompliziert sein, möchten sie stöhnen.
      Was kann er ihnen darauf antworten? Was hat er Melanie an jenem ersten Abend gesagt? Daß es ohne einen Blitz der Offenbarung nicht geht. Wo ist der Blitz der Offenbarung in diesem Raum?
      Er wirft ihr einen schnellen Blick zu. Ihr Kopf ist gesenkt, sie ist in den Text vertieft, es scheint wenigstens so.
      »Dasselbe Wort usurpieren taucht ein paar Zeilen später wieder auf. Usurpation ist eins der tieferen Themen der Alpen-Sequenz. Die großen Archetypen der Vorstellung, reine Ideen, werden von nackten Sinnes-Bildern usurpiert.
      Doch wir können unser alltägliches Leben nicht in einem Reich der reinen Ideen führen, abgeschottet von Sinneserfahrungen. Die Frage ist nicht, wie können wir die Vorstellungswelt rein erhalten, geschützt vor den Attacken der Realität. Die Frage muß lauten: Können wir eine Möglichkeit finden, daß beides nebeneinander bestehen kann?
      Schauen Sie sich Vers 599 an. Wordsworth schreibt über die Grenzen der Sinneswahrnehmung. Auf dieses Thema sind wir schon früher gestoßen. Wenn die Sinnesorgane bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gehen, beginnt ihr Licht zu versagen. Aber im Augenblick des Erlöschens flackert das Licht noch ein letztes Mal auf wie eine Kerzenflamme und schenkt uns einen Blick auf das Unsichtbare. Dieser Abschnitt ist schwierig; vielleicht widerspricht er sogar dem Montblanc-Augenblick. Trotzdem scheint Wordsworth auf einen Ausgleich bedacht: weder die reine Idee, in Wolken gehüllt, noch das sinnliche Abbild, das sich auf die Netzhaut brennt und uns mit seiner faktischen Klarheit überwältigt und enttäuscht, sondern das Sinnes-Bild, das so flüchtig wie möglich gehalten wird, damit es die Vorstellung anregt oder belebt, die in einer tieferen Schicht des Gedächtnisses verborgen ist.«
      Er hält inne. Völliges Unverständnis. Er ist zu schnell zu weit gegangen. Wie kann er sie zu sich heranholen?
      Auch sie?
      »Man kann es mit Verliebtsein vergleichen«, sagt er.
      »Wenn man blind ist, wird man sich zunächst kaum verlieben. Aber dann, will man denn wirklich das geliebte Wesen mit der kalten Klarheit des Sinnesorgans sehen? Es ist vielleicht angebrachter, einen Schleier darüber zu werfen, um die Geliebte in ihrer archetypischen, göttinnengleichen Gestalt zu erhalten.«
      Das steht kaum bei Wordsworth, aber es weckt sie wenigstens auf. Archetypen? fragen sie sich. Göttinnen? Was redet er da? Was weiß dieser alte
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