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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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sie und wehrt sich. »Meine Cousine kommt gleich zurück!«
      Aber nichts kann ihn aufhalten. Er trägt sie ins Schlafzimmer, streift ihr die lächerlichen Hausschuhe ab, küßt ihre Füße, überrascht von dem Gefühl, das sie erregt. Das hat etwas mit ihrer Erscheinung auf der Bühne zu tun: die Perücke, der wackelnde Hintern, die ordinäre Sprache.
      Seltsame Liebe! Aber aus dem Köcher Aphrodites, der schaumgeborenen Göttin, daran ist kein Zweifel.
      Sie leistet keinen Widerstand. Sie wendet sich nur weg: sie wendet ihre Lippen, ihre Augen weg. Sie läßt sich von ihm aufs Bett legen und ausziehen; sie hilft ihm sogar, hebt die Arme und dann die Hüften. Sie fröstelt; sobald sie nackt ist, schlüpft sie unter die Steppdecke wie ein Maulwurf in seinen Bau und dreht ihm den Rücken zu.
      Es ist keine Vergewaltigung, nicht ganz, aber doch unerwünscht, gänzlich unerwünscht. Als hätte sie sich entschlossen, ganz schlaff zu werden, sich tot zu stellen, solange es dauert, wie ein Kaninchen, wenn die Fänge des Fuchses sich in seinem Nacken verbeißen. So daß alles, was man mit ihr macht, sozusagen weit weg geschieht.
      »Pauline wird jeden Moment zurückkommen«, sagt sie, als es vorbei ist. »Bitte! Du mußt jetzt gehen.«
      Er gehorcht, doch als er bei seinem Auto ankommt, ergreift ihn eine solche Niedergeschlagenheit, eine solche Mattigkeit, daß er zusammengesunken hinter dem Steuer sitzt und sich nicht rühren kann.
      Ein Fehler, ein gewaltiger Fehler. In diesem Augenblick, daran zweifelt er nicht, versucht sie, Melanie, es abzuwaschen, ihn abzuwaschen. Er sieht sie vor sich, wie sie ein Bad einläßt und ins Wasser steigt, mit geschlossenen Augen wie eine Schlafwandlerin. Er würde gern selbst in ein Bad gleiten.
      Eine Frau mit stämmigen Beinen und einem strengen Bürokostüm geht vorbei und betritt das Haus. Ist das Cousine Pauline, die Mitbewohnerin, vor deren Mißbilligung sich Melanie so fürchtet? Er reißt sich zusammen und fährt weg.
       
     
      Am nächsten Tag ist sie nicht im Seminar. Dieses Fehlen ist unglücklich, weil an dem Tag die Semester-Klausur fällig ist. Als er danach die Anwesenheitsliste ausfüllt, gibt er sie als anwesend an und trägt eine 70 als Bewertung ein.
      Unten auf der Seite macht er eine Bleistiftnotiz für sich:
      »Vorläufig«. Siebzig: eine Zensur auf der Kippe, weder gut noch schlecht.
      Sie bleibt die ganze nächste Woche weg. Immer wieder ruft er an, erreicht sie aber nicht. Dann klingelt es am Sonntag um Mitternacht an der Tür. Es ist Melanie, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit einer kleinen schwarzen Wollmütze. Ihr Gesicht ist angespannt; er macht sich auf zornige Worte, auf eine Szene gefaßt.
      Die Szene kommt nicht. Eigentlich ist sie die Verlegene. »Kann ich heute nacht hier schlafen?« flüstert sie und weicht seinem Blick aus.
      »Aber natürlich.« Erleichterung durchströmt ihn. Er zieht sie in seine Arme und drückt sie, die steif und kalt ist, an sich. »Komm, ich mach dir einen Tee.«
      »Nein, keinen Tee, nichts, ich bin völlig fertig, ich muß mich nur hinhauen.«
      Er macht ihr im Zimmer, das früher seiner Tochter gehörte, ein Bett zurecht, gibt ihr einen Gute-Nacht-Kuß und läßt sie allein. Als er eine halbe Stunde später nachschaut, schläft sie wie eine Tote, vollständig angekleidet.
      Er zieht ihr die Schuhe aus und deckt sie zu.
      Um sieben Uhr früh, als die ersten Vögel zu zwitschern beginnen, klopft er an ihre Tür. Sie ist wach, liegt da und hat die Decke bis unters Kinn gezogen und sieht verhärmt aus.
      »Wie geht’s dir?« fragt er.
      Sie zuckt mit den Schultern.
       
     
      »Ist was passiert? Willst du es erzählen?«
      Sie schüttelt stumm den Kopf.
      Er setzt sich aufs Bett und zieht sie an sich. In seinen Armen beginnt sie kläglich zu schluchzen. Trotzdem zittert er vor Verlangen. »Na, na«, flüstert er und versucht, sie zu trösten. »Sag mir, was los ist.« Fast hätte er gesagt:
      »Sag Papa, was los ist.«
      Sie faßt sich und versucht zu sprechen, aber ihre Nase ist verstopft. Er besorgt ihr ein Tempotaschentuch. »Kann ich für eine Weile hierbleiben?« fragt sie.
      »Hierbleiben?« wiederholt er vorsichtig. Sie hat aufgehört zu weinen, aber immer wieder überläuft sie ein langer Schauer des Elends. »Wäre das klug?«
      Ob das klug wäre, sagt sie nicht. Statt dessen drückt sie sich fester an ihn, ihr Gesicht liegt warm an seinem Bauch.
     
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