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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Mann von der Liebe?
      Eine Erinnerung stellt sich ein: der Moment auf dem Fußboden, als er ihren Pullover hochgeschoben und ihre schönen, perfekten kleinen Brüste entblößt hat. Zum erstenmal blickt sie hoch; ihre Augen tauchen in seine und erkennen blitzartig alles. Verwirrt senkt sie den Blick.
      »Wordsworth schreibt über die Alpen«, sagt er. »Wir haben hier keine Alpen, doch wir haben die Drakensberge oder, etwas bescheidener, den Tafelberg, den wir nach dem Vorbild der Dichter besteigen, und wir erhoffen uns davon diese Momente der Offenbarung, von denen Wordsworth spricht und von denen wir alle gehört haben.« Jetzt redet er einfach so dahin und verwischt die Spuren. »Aber solche Momente werden sich nicht einstellen, wenn das Auge nicht halbwegs eingestellt ist auf die großen Archetypen der Vorstellungswelt, die wir in uns tragen.«
      Genug! Er ist seiner eigenen Stimme überdrüssig, und sie tut ihm leid, weil sie sich diese versteckten Intimitäten anhören muß. Er entläßt die Studenten, dann zögert er zu gehen, weil er auf ein paar Worte mit ihr hofft. Aber sie schlüpft im Gedränge fort.
      Vor einer Woche noch war sie nur ein hübsches Gesicht unter anderen in der Seminargruppe. Jetzt ist sie Realität in seinem Leben, eine lebendige Realität.
       
     
      Das Auditorium des Studentenverbands liegt im Dunkeln.
      Unbemerkt setzt er sich in die hinterste Reihe. Abgesehen von einem Mann ein paar Reihen vor ihm – er hat schütteres Haar und trägt eine Hausmeisterkluft – ist er der einzige Zuschauer.
      Sunset in the Globe Salon heißt das Stück, das sie proben – eine Komödie über das neue Südafrika, die in einem Frisiersalon in Hillbrow, Johannesburg spielt. Auf der Bühne bedient ein Friseur, aufdringlich schwul, zwei Kunden, einer davon ist schwarz, der andere weiß. Sprüche gehen zwischen den dreien hin und her – Scherze, Beleidigungen. Das vorherrschende Prinzip scheint die Katharsis zu sein: die ganzen grobschlächtigen alten Vorurteile werden ans Tageslicht gebracht und mit Lachstürmen hinweggefegt.
      Eine vierte Figur kommt auf die Bühne, ein Mädchen mit hohen Plateauschuhen und Korkenzieherlocken.
      »Setzen Sie sich, Süße, Sie werden gleich bedient«, sagt der Friseur. »Ich komme wegen dem Job«, antwortet sie, »wegen der Annonce in der Zeitung.« Sie spricht breiten Kaaps-Dialekt; es ist Melanie. »Ach, nimm einen Besen und mach dich nützlich«, sagt der Friseur.
      Sie greift sich einen Besen, geht tapsig auf der Bühne herum und stößt ihn vor sich her. Der Besen verfängt sich in einer Verlängerungsschnur. Eigentlich soll es jetzt aufblitzen, gefolgt von Schreien und hektischem Herumlaufen, aber mit dem Ablauf klappt etwas nicht. Die Regisseurin kommt mit großen Schritten auf die Bühne, ihr folgt ein junger Mann in schwarzen Ledersachen, der sich an der Steckdose zu schaffen macht. »Das muß noch zackiger kommen«, sagt die Regisseurin. »Wie bei den Marx Brothers.« Sie wendet sich an Melanie. »Klar?«
      Melanie nickt.
      Vor ihm steht der Hausmeister auf und verläßt mit einem tiefen Seufzer das Auditorium. Er sollte auch gehen. Es ist ungehörig, so im Dunkeln zu sitzen und einer jungen Frau nachzuspionieren (ungebeten drängt sich ihm das Wort lüstern auf). Aber die alten Männer, zu denen er bald gehören wird, die Stadtstreicher und Stromer mit ihren fleckigen Regenmänteln, dem lückenhaften Gebiß und aus den Ohren sprießenden Haaren – sie alle waren einst Kinder Gottes mit geraden Gliedern und klaren Augen. Kann man es ihnen vorwerfen, daß sie bis zuletzt das köstliche Gastmahl der Sinne nicht verlassen wollen?
      Auf der Bühne geht die Handlung weiter. Melanie stößt ihren Besen vor sich her. Ein Knall, ein Blitz, erschreckte Schreie. »Ich kann nichts dafür«, kreischt Melanie. » My gats   [4] , warum muß ich an allem schuld sein?« Er steht leise auf und folgt dem Hausmeister in die Dunkelheit draußen.
       
     
      Am Nachmittag um vier steht er am nächsten Tag vor ihrer Tür. Als sie öffnet, hat sie ein zerknittertes T-Shirt an, Radlerhosen und Hausschuhe in der Gestalt von Comic-Figuren, die er albern und geschmacklos findet.
      Er hat sie nicht vorgewarnt; sie ist zu überrascht, um sich dem lästigen Besucher zu widersetzen, der sich ihr aufdrängt. Als er sie umarmt, fallen ihre Glieder herab wie die einer Marionette. Worte dringen keulenschwer in ihre zarte Ohrmuschel. »Nein, nicht jetzt!« sagt
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