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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Diesen Film hat er zum ersten Mal vor einem Vierteljahrhundert gesehen, aber er fesselt ihn immer noch: der Moment in der Gegenwart und die Vergangenheit dieses Moments, flüchtig, im selben Raum eingefangen.
      Er wünscht sich, daß auch das Mädchen davon gefesselt wird. Aber er spürt, daß das nicht der Fall ist.
      Als der Film zu Ende ist, steht sie auf und schlendert durchs Zimmer. Sie hebt den Klavierdeckel hoch, schlägt das Schloß-C an. »Spielen Sie?« fragt sie.
      »Ein wenig.«
      »Klassische Musik oder Jazz?«
      »Keinen Jazz, leider.«
      »Würden Sie mir was vorspielen?«
      »Jetzt nicht. Ich bin aus der Übung. Ein andermal, wenn wir uns besser kennen.«
      Sie schaut in sein Arbeitszimmer. »Darf ich?« fragt sie.
      »Machen Sie sich Licht.«
      Er legt eine weitere Platte auf: Sonaten von Scarlatti, Katzenmusik.
      »Sie haben eine Menge Bücher von Byron«, sagt sie, als sie aus dem Zimmer kommt. »Ist das Ihr Lieblingsschriftsteller?«
      »Ich arbeite über Byron. Über seine Zeit in Italien.«
      »Ist er nicht jung gestorben?«
      »Mit sechsunddreißig. Sie sind alle jung gestorben.
      Oder verstummt. Oder sie sind verrückt geworden, und man hat sie eingesperrt. Aber Byron ist nicht in Italien gestorben. Er starb in Griechenland. Er ist vor einem Skandal nach Italien geflohen und dort geblieben. Hat sich dort niedergelassen. Hat die letzte große Liebe seines Lebens erlebt. Italien war zur damaligen Zeit ein beliebtes Reiseziel der Engländer. Sie glaubten, die Italiener seien noch ursprünglicher. Weniger von Konventionen eingeengt, leidenschaftlicher.«
       
     
      Sie wandert wieder durchs Zimmer. »Ist das Ihre Frau?«
      fragt sie und bleibt vor einem gerahmten Foto auf dem Couchtisch stehen.
      »Meine Mutter. Ein Jugendbild von ihr.«
      »Sind Sie verheiratet?«
      »Ich war verheiratet. Zweimal. Jetzt nicht mehr.« Er sagt nicht: Jetzt begnüge ich mich mit dem, was mir über den Weg läuft. Er sagt nicht: Jetzt begnüge ich mich mit Huren. »Möchten Sie einen Likör?«
      Sie möchte keinen Likör, aber sie willigt in einen Schuß Whisky zu ihrem Kaffee ein. Während sie ihn schlürft, beugt er sich herüber und berührt ihre Wange.
      »Du bist sehr schön«, sagt er. »Ich werde dich jetzt auffordern, etwas Kühnes zu tun.« Er berührt sie wieder. »Bleib.
      Verbring die Nacht mit mir.«
      Über den Tassenrand hinweg blickt sie ihn fest an.
      »Warum?«
      »Weil du es tun solltest.«
      »Warum sollte ich?«
      »Warum? Weil die Schönheit einer Frau nicht ihr allein gehört. Sie ist Teil der Aussteuer, die sie mit auf die Welt bringt. Sie hat die Pflicht, sie zu teilen.«
      Seine Hand ruht noch immer auf ihrer Wange. Sie weicht nicht zurück, doch sie gibt auch nicht nach.
      »Und wenn ich sie schon teile?« Ihrer Stimme ist eine gewisse Atemlosigkeit anzumerken. Es ist immer erregend, wenn man umworben wird — erregend, angenehm.
      »Dann solltest du sie noch breiter teilen.«
      Glatte Worte, alt wie die Kunst der Verführung selbst.
      Doch in diesem Augenblick glaubt er daran. Sie gehört sich nicht selbst. Schönheit gehört sich nicht selbst.
       
     
      »Von schönsten Wesen wünschen wir Vermehrung«, sagt er, » damit der Schönheit Ros’ unsterblich sei .« [2]
      Kein guter Einfall. Ihr Lächeln verliert das Spielerische, Bewegliche. Der Pentameter, dessen Kadenz einst so tauglich war, die Worte der Schlange eingängig zu machen, befremdet nun. Er ist wieder Lehrer, Literat, Wächter des Kulturerbes. Sie setzt die Tasse ab. »Ich muß gehen, ich werde erwartet.«
      Die Wolken haben sich verzogen, die Sterne scheinen.
      »Eine schöne Nacht«, sagt er und schließt das Gartentor auf. Sie blickt nicht hoch. »Soll ich dich nach Hause bringen?«
      »Nein.«
      »Na schön. Gute Nacht.« Er breitet die Arme aus und umfängt sie. Für einen Moment spürt er ihre kleinen Brüste an seiner Brust. Dann schlüpft sie aus seiner Umarmung und ist fort.

  3. Kapitel
 
      Hier sollte er Schluß machen. Er tut es aber nicht. Am Sonntag vormittag fährt er in den leeren Campus und schließt das Sekretariat des Fachbereichs auf. Aus dem Aktenschrank holt er die Karteikarte mit den Immatrikulationsdaten von Melanie Isaacs und schreibt ihre persönlichen Daten ab: Heimatadresse, Adresse in Kapstadt, Telefonnummer.
      Er wählt die Nummer. Eine Frauenstimme meldet sich.
      »Melanie?«
      »Ich hole sie. Wer ist am
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