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Schande

Schande

Titel: Schande
Autoren: J. M. Coetzee
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Kommunikationswissenschaften. Wie alle anderen von der Rationalisierung betroffenen Lehrkräfte darf er ein Oberseminar im Jahr anbieten, unabhängig von der Teilnehmerzahl, weil das gut für das geistige Klima ist. In diesem Jahr bietet er ein Seminar über die Dichter der Romantik an. In der übrigen Zeit unterrichtet er Kommunikationswissenschaften 101: »Kommunikationstechniken« und Kommunikationswissenschaften 201: »Kommunikationstechniken für Fortgeschrittene«.
      Obwohl er mehrere Stunden jeden Tag seiner neuen Disziplin widmet, findet er deren oberste Prämisse, wie sie im Handbuch der Kommunikationswissenschaften 101 formuliert wird, absurd: »Die menschliche Gesellschaft hat die Sprache geschaffen, damit wir uns unsere Gedanken, Gefühle und Absichten mitteilen können.« Seine Meinung, die er nicht laut äußert, ist, daß die Ursprünge der Sprache im Gesang liegen und die Ursprünge des Gesangs im Bedürfnis, die übergroße und ziemlich leere menschliche Seele mit Lauten zu füllen.
      Im Verlauf einer Karriere, die sich über ein Vierteljahrhundert erstreckt, hat er drei Bücher veröffentlicht, von denen keins Aufsehen erregt oder auch nur einige Wellen geschlagen hätte: das erste über die Oper (Boito und die Faust-Sage: Die Entstehung des Mefistofele), das zweite über Vision als Eros (Die Vision des Richard von Sankt Viktor) und das dritte über Wordsworth und die Geschichte (Wordsworth und die Last der Vergangenheit).
      Während der letzten Jahre hat er mit dem Gedanken gespielt, etwas über Byron zu schreiben. Zunächst hatte er geglaubt, es würde ein weiteres Buch werden, ein weiteres Werk der Literaturkritik. Aber alle seine Schreibversuche sind in Weitschweifigkeit steckengeblieben. Die Wahrheit ist, daß er die Literaturkritik satt hat, daß er die Prosa am Fließband satt hat. Er möchte eigentlich Musik schreiben: Byron in Italien, Gedanken über die Liebe zwischen den Geschlechtern in der Form einer Kammeroper.
      Wenn er in seinen kommunikationswissenschaftlichen Seminaren sitzt, gehen ihm Wendungen, Melodien, Gesangsfragmente des ungeschriebenen Werks durch den Kopf. Als Lehrer ist er noch nie besonders gut gewesen; in seiner umgewandelten und seiner Meinung nach kastrierten Lehranstalt fühlt er sich mehr denn je fehl am Platz.
      Aber das geht schließlich auch anderen Kollegen aus alten Zeiten so, deren Ausbildung sie nicht auf die Aufgaben vorbereitet hat, mit denen sie nun konfrontiert sind; Geistliche in einem postreligiösen Zeitalter.
      Weil er keinen Respekt für den Stoff hat, den er lehrt, kommt er bei seinen Studenten nicht an. Sie schauen durch ihn hindurch, wenn er spricht, sie vergessen seinen Namen. Ihre Gleichgültigkeit erbittert ihn mehr, als er zugeben will. Trotzdem erfüllt er akribisch seine Pflicht ihnen, ihren Eltern und dem Staat gegenüber. Monat für Monat stellt er ihnen Aufgaben, sammelt ihre Arbeiten ein, liest sie und versieht sie mit Anmerkungen, korrigiert Fehler in Zeichensetzung und Orthographie, im Wortgebrauch, hinterfragt logische Schwachpunkte und fügt jeder Arbeit eine kurze, wohlüberlegte Kritik an.
      Er unterrichtet weiter, weil es ihm seinen Lebensunterhalt sichert; und auch weil es ihn Bescheidenheit lehrt, ihm klarmacht, wo sein Platz in der Welt ist. Die Ironie daran entgeht ihm nicht: der zum Lehren Berufene lernt unheimlich viel, während die zum Lernen Bestellten nichts lernen. Das ist ein Wesenszug seines Berufs, den er Soraya gegenüber nicht erwähnt. Er bezweifelt, daß es in ihrem Beruf eine ähnliche Ironie gibt.
       
     
      In der Küche der Wohnung in Green Point gibt es einen Wasserkessel, Plastiktassen, ein Glas mit Pulverkaffee, eine Dose mit Zuckertütchen. Im Kühlschrank befindet sich ein Vorrat an Wasserflaschen. Im Bad gibt es Seife und einen Stapel Handtücher, im Schrank frische Bettwäsche.
      Soraya hat ihr Make-up in einer kleinen Reisetasche. Ein Treff, weiter nichts, zweckdienlich, sauber, gut organisiert.
      Als Soraya ihn zum ersten Mal empfing, hatte sie zinnoberroten Lippenstift und kräftigen Lidschatten aufgetragen. Weil er die Klebrigkeit des Make-up nicht mochte, forderte er sie auf, es abzuwischen. Sie gehorchte und hat es seither nie mehr verwendet. Sie lernt schnell, ist fügsam, formbar.
      Er macht ihr gern Geschenke. Zu Neujahr hat er ihr ein Emaille-Armband geschenkt, zum Id, dem Ende der Fastenzeit, einen kleinen Reiher aus Malachit, der ihm in einem Antiquitätenladen
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