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Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)

Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)

Titel: Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)
Autoren: Youya Lo
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Eins
     
    Neujahr 2013
     
    Während die Flugbegleiterin ihre Ersatzbluse
zuknöpfte, betrachtete Daniel die provisorische Küche der Boeing durch ihre
Augen. Er nutzte die Fähigkeit der Bewusstseinsmanipulation nicht gern, ganz
egal in welcher Form und zu welchem Zweck, deshalb bemühte er sich ernsthaft,
nicht zu tief in Sophies Gedankenwelt einzutauchen. Leider war sie vollkommen
ungeordnet, und Daniel bekam einen sehr viel intimeren Einblick, als ihm lieb
war.
    Fertig umgezogen wandte Sophie sich um. Sie entdeckte
eine Papierserviette auf dem Boden, bückte sich danach und verspürte einen
kurzen aber heftigen Schwindel im Kopf. Sie hielt ihn für den Vorboten einer
Migräne, aber Daniel wusste es besser. So wie der Zwischenfall mit dem
verschütteten Kaffee nicht der Ungeschicklichkeit der alten Dame auf Sitz 3
zuzuschreiben war, so handelte es sich auch hierbei um ein Symptom des
vermutlich schon pennygroßen Tumors, der in Sophies Großhirn Raum forderte, wo
keiner war.
    Die Koordinationsstörungen kamen noch nicht häufig.
Und der Schwindel ebbte jedes Mal schnell ab. Vermutlich deshalb dachte sie gar
nicht daran, einen Arzt aufzusuchen. Stattdessen dachte sie an ihn. An Daniel.
Die 16, wie sie ihn insgeheim nannte, obwohl ein Blick auf die Passagierliste
ihre Neugier gezähmt und seinen Namen offenbart hatte.
     
    Sophie griff nach einem Tablett und zog den Vorhang zurück,
der die Boardküche von der ersten Klasse trennte. Keiner ihrer drei Passagiere
hatte noch irgendetwas am Platz, was Sophie so kurz vor der Landung in Paris
noch hätte abräumen können und sie wusste das.
    Auf viel zu hohen Absätzen und trotzdem effektvoll
tänzelte sie über den Gang, vorbei an der alten Dame, deren Bitte um einen
weiteren Kaffee sie schlichtweg ignorierte. Sophie kam ohne Umwege zu ihm.
    „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, Monsieur
Miller?“
    Ihr Puls beschleunigte sich, als er ihr Zwinkern mit
einem Lächeln beantwortete. Das fiel ihm zunehmend schwerer, weil ihre Gedanken
ungefiltert auf ihn einhagelten und allesamt mit ihm beschäftigt waren. Aber er
war nicht der Draufgänger, für den sie ihn hielt. Er war nicht einmal
gleichaltrig. Und sie nicht ebenbürtig.
    Das Klicken der Leuchttäfelchen über den Sitzen krachte
in ihren Ohren wie ein Startschuss. Landeanflug. Anschnallpflicht.
    Das kam Sophie offensichtlich gelegen. Sie beugte sich
vor, so weit, dass ihre Lippen beinahe seine berührten. Ihr Knie schob sich
zwischen seine Beine. Daniel achtete darauf, nicht zurückzuweichen, während er
ihr ein Visitenkärtchen in die Hand schob und ihrem Unterbewusstsein befahl,
sich zu mäßigen.
    „Komm in einer Stunde zu dieser Adresse, dort wirst du
mich finden.“
    Selbstverständlich war das Kärtchen mit nichts
bedruckt, und selbstverständlich bemerkte Sophie weder diesen Umstand noch die
Tatsache, dass er ihr auf mentalem Wege einflüsterte, wo sie zu erscheinen
hatte.
    Als er ihre Gedanken ein letztes Mal kontrollierte,
biss er die Zähne zusammen. Sophie freute sich auf die Fortsetzung dieser
Begegnung, während er für den Bruchteil einer Sekunde darum betete, sie würde
ihm einfach widerstehen und auf diese Weise ihr Leben retten.

Zwei
     
    Seit Jahrzehnten hatte Daniel größere räumliche
Distanzen nicht mehr auf die gleiche Weise überwunden wie die
Normalsterblichen; etwa durch konventionelles Reisen. Zwar hätte er über die
dafür benötigte Zeit sogar im Überfluss verfügt, eine Notwendigkeit für diese
Art des Fortkommens bestand für ihn aber nicht. Für gewöhnlich. Diesmal war es
anders, deshalb musste er ausnahmsweise das Gedränge im Flughafengebäude
hinnehmen, allerdings beabsichtigte er, diesen Zustand schnellstmöglich zu beenden.
    Vor den vorbeiströmenden Reisenden verbarg er sich,
indem er ihre Gedanken manipulierte und ihnen befahl, seine physische Präsenz
zu übersehen. Den Funksendern der umliegenden Überwachungskameras schickte er
einen kurzen mentalen Impuls um die Übertragung zu stören, bevor er all die
Teilchen, aus denen sein ungewandelter, übernatürlicher Körper bestand,
auflöste und an einen anderen Ort teleportierte.
     
    Das Apartment, in dem er sich schon im nächsten
Augenblick rematerialisierte, war unbewohnt. Daniel ließ blickdichte Vorhänge
vor den Fenstern entstehen, obwohl er nicht beabsichtigte, die Glühbirne zum
Einsatz zu bringen, die in der Mitte des leeren Raums von der Decke hing. Seine
Finger fühlten sich steif an, kalt und ungelenk, als er
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