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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Autoren: Martina André
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zurück über den Tutschkow-Most. Beinahe erleichtert erreichten sie das gegenüberliegende Ufer.
    Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Kosaken bahnten sich Säbel schwingend den Weg über die Brücke, und ihre unerschrockenen Rösser trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Ein Teeverkäufer ging mit seinem Samowar zu Boden und |22| schrie gellend auf, als ihn das überschwappende heiße Gebräu verbrühte. Frauen stießen hysterische Schreie aus. Männer fluchten, und Kinder begannen, lauthals zu weinen. Leonard trieb Katja abermals voran und mischte sich mit ihr unter eine Traube von flüchtenden Menschen, die geradewegs in die falsche Richtung über den breiten Bolschoi-Prospekt stürmten. Hastig bogen er und seine völlig erschöpfte Begleiterin in die Wedenskaya Ulitsa ab. Während die lauten Trillerpfeifen der Straßenpolizisten in einem Echo von den Häuserfassaden schrillten, erreichten Leonard und Katja mit hochroten Köpfen den Kronwerski-Prospekt. Nun waren es nur noch wenige Meter bis zu Leonards Wohnung. Er betete stumm, dass sie unerkannt im Haus verschwinden konnten. Doch auf der davor liegenden Kreuzung bot sich ihm ein abscheuliches Bild. Vier oder fünf Männer in heruntergekommenen Mänteln prügelten auf einen alten, ganz in Schwarz gekleideten Mann ein, der bereits wimmernd am Boden lag. Er hatte seinen Pelzhut verloren, und sein Gesicht war mit Blut besudelt. Der schmutzige, festgetretene Schnee unter seinem Kopf hatte sich rot gefärbt.
    »Scheißjuden!«, brüllte einer der Angreifer und trat den Alten erbarmungslos in die Seite. Leonard vergaß für einen Moment seine Flucht. Zweifellos war es Jakov Eisenstein, der sich dort schwer verletzt im Schnee krümmte. Um ihn hatte sich ein Kreis von Schaulustigen gebildet. Mit einer wilden Entschlossenheit durchbrach Leonard den Ring, packte den ersten Kontrahenten an dessen Jacke und riss ihn herum. Mit einem Fausthieb schlug er dem stämmigen Mann die Nase blutig. Der Zweite, der wie die übrigen Kerle von Eisenstein abgelassen hatte, war aufgesprungen und riss Leonard am Kragen seines Mantels. Doch bevor er ihn treffen konnte, hatte Leonard erneut ausgeholt und den Mann mit einem Schwinger unter dem Kinn getroffen. Röchelnd ging der andere zu Boden. Jetzt machte es sich bezahlt, dass Leonard in seiner Studentenverbindung nicht nur den Säbel führte, sondern auch regelmäßig am Faustkampf teilnahm.
    Gespannt wie eine Bogensehne stand er da und wartete auf weiteren Widerstand, doch seine Gegner hatten offenbar die Lust an ihrem Opfer verloren und zogen sich fluchend zurück. Leonard ging auf die Knie und packte seinen kauzigen Vermieter vorsichtig bei den Schultern. Eisenstein rührte sich kaum noch, als Leonard dessen Kopf anhob. |23| Plötzlich spürte er die klebrige Nässe, die seine Lederhandschuhe durchtränkte. Der Schädel des Alten war am Hinterkopf zerschmettert.
    Katja kauerte neben ihm. Ihr Atem ging stoßweise, und ihre Augen waren geweitet vor Entsetzen. Geistesgegenwärtig hatte sie sich ihres sibirischen Pelzmuffs entledigt und schob ihn dem schwer verletzten Juden unter den Kopf. Doch es nützte nichts mehr. Der weiße Pelz tränkte sich stetig mit Blut, und hilflos mussten Leonard und Katja mit ansehen, wie unter einem letzten, heiseren Flüstern der wasserblaue Blick des Jakov Eisenstein brach.
    Mit einem Mal erhob sich eine laute, nach Atem ringende Männerstimme über ihnen.
    »Waffen weg! Ihr Rebellenschweine!« Verwirrt schaute Leonard auf und sah, dass sie von Kosaken und Polizisten umstellt waren.
     
    Die Peter-und-Paul-Festung war ein eindrucksvolles Bauwerk, breit wie mehrere Häuserblöcke, mit Mauern so dick, dass man glatt fünf Wände daraus hätte errichten können. Leonard kannte dieses monumentale Gebäude, das in seiner Gestalt einem unregelmäßigen Sechseck glich, nur von außen. Aus dessen Mitte ragte die russisch-orthodoxe Peter-und-Paul-Kathedrale hervor, deren schmaler Turm wie eine aufrecht stehende Nadel wirkte. Mit einem sieben Meter aufragenden Engel auf der Turmspitze war sie das höchste Gebäude von Sankt Petersburg, und bereits seit dem 18. Jahrhundert hatte man in ihrer Obhut die meisten Zaren begraben.
    Eines Engels hätte es auch bedurft, als man Leonard zusammen mit Jekatherina in einem geschlossenen Gefangenentransporter in das berüchtigtste Gefängnis von ganz Russland verbrachte.
    Die Trubezkoi-Bastion im Südwesten der Festung gehörte mit ihren 36
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