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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Autoren: Martina André
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dass man sich nicht ohne Gefahr mit dem Zaren anlegt.«
     
    Der Morgen war kalt und neblig, und die Verhandlung war schnell und ungerecht. Als gegen zwölf die donnernde Festungskanone den Mittag bezeugte, war das Urteil gesprochen. Tod durch Erschießen. Begründung: Terroristische Umtriebe gegen die Monarchie. Dazu heimtückischer Mord an einem Mitglied der Staatsgewalt und Tötung eines jüdischen Kaufmanns aus niederen Trieben.
    Die Vollstreckung hatte unverzüglich zu erfolgen.
    |28| Leonards Augen füllten sich erneut mit Tränen, als ihm Jekatherina auf dem langen Gang nach draußen begegnete. Abgeführt in Ketten, gekleidet in einen grauen Gefängniskittel, bot sie ein Bild des Jammers. Man hatte ihr den Kopf geschoren, und nur noch ein rötlicher Flaum ließ die ehemals schönen tizianroten Haare erahnen. Ihre schmale Gestalt erschien ihm noch bleicher als je zuvor. Ihre Wangen waren eingefallen, Kinn und Stirn schimmerten dunkel, von blauen Flecken gezeichnet. Dabei wirkte ihr Blick so leer und hoffnungslos, dass es ihm wehtat. Und wenn er genauer hinsah, spiegelte sich darin einzig das Grauen, das sie in den letzten zwei Wochen hatte erdulden müssen. Für einen winzigen Moment kamen sie einander nahe genug, um dem anderen etwas sagen zu können.
    »Ich liebe dich«, entfuhr es Leonard mit erstickter Stimme. »Ich werde dich heiraten, und wenn es im Himmel sein wird.«
    »Ljubimyj«, flüsterte Katja. »Das wird nicht gehen. Es ist alles meine Schuld. Ich werde dafür in der Hölle schmoren.«
    Noch bevor er ihr widersprechen konnte, zerrte man ihn nach draußen auf den Hof. An hastig aufgestellten Pfählen wurden sie angekettet, während annähernd zwanzig Soldaten bei dichtem Schneetreiben im Innenhof des Gefängnisgebäudes trotz dicker Mäntel frierend auf den Schießbefehl warteten.
    Leonard trug nur ein dünnes Hemd und eine zerschlissene Anstaltshose. Doch die Kälte spürte er nicht mehr – erst recht nicht, als man ihm eine Augenbinde anlegte. Bis zuletzt hatte er Jekatherina angesehen. Dabei war ihm bewusst geworden, wie kostbar jeder einzelne Augenblick ihres Zusammenseins gewesen war. Nicht einmal an seine Mutter dachte er. Nur an dieses Mädchen.
    »Achtung! Gewehr anlegen!«, brüllte eine befehlsgewohnte Stimme über den Hof. Das Knallen der Stiefelsohlen und das typische Durchladen der Karabiner hallten von den Mauern wider.
    Leonards Gedanken überschlugen sich. Er sprach ein letztes, hastiges Gebet, obwohl er als Protestant in diesen Dingen nie besonders beflissen gewesen war.
    Nichts geschah. Banges Warten. Vielleicht war er schon tot, und merkte es nicht?
    Plötzlich hörte er Schritte. Jemand nahm ihm die Augenbinde ab.
    |29| Sein erster Gedanke galt Katja. Zusammengesunken hing sie am Pfahl, die Schultern schneebedeckt.
    War sie tot? Doch er hatte keinen einzigen Schuss vernommen.
    Ein groß gewachsener Mann stand vor ihm, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug keine Uniform, sondern einen gepflegten, dunkelblauen Wollmantel, der seine breiten Schultern mit einer Passe betonte. Sein Haar und sein Schnurbart waren so schwarz wie seine Bärenfellmütze, und sein strenges Gesicht erschien nicht älter als vierzig.
    »Leonard Michailowitsch Schenkendorff?«
    »Ja«, antwortete Leonard zaghaft.
    »Geheimrat Nikolaj Michajloff, Dritte Abteilung«, antwortete der Mann in akzentfreiem Deutsch. »Sie haben die Wahl. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, wandeln wir das Todesurteil in eine Deportation in die sibirische Taiga um.«
    Leonard glaubte, sich verhört zu haben. Sein Blick wanderte abermals zu Katja, der man ebenfalls die Augenbinde abgenommen hatte und die seinen Blick auffing, als ob er aus einer anderen Welt stammte.
    »Das gilt auch für das Mädchen«, antwortete Michajloff schneidig.
    »Es liegt also an Ihnen, ob sie leben wird!«

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    2
    Juni 2008, Berlin/Tunguska (Sibirien) – Aufbruch
    Das Telefon dudelte unbarmherzig die »Internationale«. Viktoria Vanderberg war beinahe dankbar, dass sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl gehabt, ertrunken zu sein. Hustend schnappte sie nach Luft und schluckte noch einmal, bevor sie im spärlichen Licht des Displays die Taste ihres Mobiltelefons bediente.
    »Hallo?« Ihre Stimme klang heiser.
    »Na, meine Süße, freust du dich schon?«
    Mühsam richtete Viktoria sich auf. Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaltete die
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