Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
nah auf die Pelle zu rücken und ab und an eine süffisante Bemerkung loszulassen.
Mitten in der Unterhaltung mit dem zuständigen Frachtmanager |34| dudelte erneut Viktorias Mobiltelefon, doch diesmal war es nicht die »Internationale«, sondern ein kindlicher Sänger, der laut und eindringlich das Wort »Mama« trällerte – ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um ihre verwitwete Mutter handelte, die ihr noch ein letztes Mal alles Gute zum Abschied wünschen wollte, ganz so, wie sie es nun schon die letzten fünf Abende zuvor getan hatte.
»Mutter!«, zischte Viktoria leise und wandte sich demonstrativ zu einem der vielen Gepäckwagen hin, die direkt unter den Tragflächen des Airbusses standen. »Ich bin dreißig Jahre alt und keine drei. Es ist gerade ganz schlecht. Wir sind in den Vorbereitungen zum Abflug.«
»Umso besser, Kindchen. Hinterher, wenn du erst in dieser Wildnis bist, kann ich dich doch nicht mehr erreichen. Ich wollte mich nur noch mal vergewissern, ob du auch deine warmen Pullover eingepackt hast und das Mückenschutzmittel, das dir Doktor Almuth empfohlen hat.«
»Ja, doch, Mutsch«, antwortete Viktoria ungehalten, während sie aus einem Augenwinkel heraus das unverschämte Grinsen ihres Kollegen streifte.
Wohnst du etwa noch bei Mutti? hatte Sven sie erst vor kurzem gefragt, nachdem ihre Mutter – wie beinahe jeden Tag – um die Mittagszeit angerufen hatte, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen und ihr die obligatorische Frage zu stellen, ob sie auch was Anständiges gegessen hatte. Schließlich litt die ältere Frau unter Einsamkeit, und ihre einzige Tochter war alles, was ihr geblieben war. Auch wenn es Viktoria zunehmend lästig erschien, plagte sie das schlechte Gewissen, wenn sie die viel zu häufigen Anrufe ihrer Mutter ignorierte.
»Ach, Vicky, Sibirien ist so unendlich weit weg«, jammerte ihre Mutter. »Freiwillig sollte man da schon gar nicht hingehen. Dein Großvater wurde 1945 dorthin deportiert. Zehn Jahre in Gefangenschaft – kannst du dir so etwas vorstellen? Er wäre beinahe daran gestorben. Wusstest du das?«
»Mutter!« Viktoria war reichlich entnervt. »Das ist eine wissenschaftliche Expedition und kein Archipel GULAG. In acht Wochen bin ich zurück.«
»Fahren wenigstens ein paar anständige Männer mit? Ich meine, passt da jemand auf dich auf?«
Viktorias Blick fiel auf Sven Theisen, der es offenbar nicht für nötig |35| befand, die entsprechende Diskretion zu wahren und mit einem Dauergrinsen interessiert ihrem Telefonat folgte.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte sie knapp. »Ich bin nicht allein. Schließlich begleite ich Professor Doktor Rodius.«
»Ist er verheiratet?« Die Frage klang provozierend und sollte wie immer darauf hinauslaufen, ob es vielleicht unter ihren Kollegen jemanden gab, der sie endlich zum Traualtar führte.
»Der Professor ist fünfundsechzig.« Ihre Worte klangen wie ein abschließendes Amen, das der peinlichen Befragung ein Ende setzen sollte.
»Vati wäre auch fünfundsechzig geworden in diesem Mai.«
»Ja, Mama. Ich muss los. Mach’s gut. Ich melde mich über Satellitentelefon, wenn es möglich ist.«
Hatte sie zum Beginn des Eincheckens noch geglaubt, Sven Theisen entfliehen zu können, so stellte sich nach der Sitzplatzverteilung heraus, dass er auf dem Flug bis Moskau direkt neben ihr saß.
Während er sich in einer unverschämten Selbstverständlichkeit in den benachbarten Sitz sinken ließ, stellte sich Viktoria zum x-ten Mal die Frage, wie sie es mit einem solchen Kollegen acht Wochen in der sibirischen Einöde aushalten sollte und ob es unter der gegebenen Situation überhaupt möglich war, auf eine gedeihliche Zusammenarbeit zu hoffen.
»Und was machen wir«, fragte er in zehntausend Meter Höhe, während er ihr eines der beiden Sektgläser in die Hand drückte, die er ohne Rückfrage beim Stewart bestellt hatte, »wenn es nun doch eine fliegende Untertasse war, die für die Katastrophe von Tunguska verantwortlich ist und wir deren Überreste finden?« Mit einem breiten Grinsen erhob Theisen sein Glas.
Viktoria schaute ihn für einen Moment fassungslos an. Doch dann besann sie sich und setzte ein süffisantes Grinsen auf.
»Das wäre ein ausgesprochener Glücksfall«, bemerkte sie und erhob gleichfalls ihr Glas, während sie ihm direkt in seine erwartungsfrohen Augen sah. »Dann würde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass man das Raumschiff repariert, damit man Leute wie dich ohne
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