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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Autoren: Martina André
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begleitete Leonard sie nach draußen.
    |16| Vor der Haustür empfing sie eine lausige Kälte. Die Schneedecke war dagegen für diese Jahreszeit erstaunlich dünn. Ein undurchdringlicher Nebel zog von der Newa über die Stadt und machte es den Sonnenstrahlen unmöglich, den gefrorenen Boden aufzuweichen.
    Jakov Eisenstein zog missbilligend eine seiner buschigen Brauen hoch, als er sah, dass Leonard in weiblicher Begleitung das dreistöckige Mietshaus verließ und sich anschickte, mit ihr die Sytninskaja Ulitsa hinunterzueilen. Mit einem Schnauben stellte er den Besen beiseite und rückte seinen Streimel, den obligatorischen pelzumrandeten Hut der orthodoxen Juden, zurecht, bevor er Leonards Ärmel zu fassen bekam und ihn zwang, stehen zu bleiben.
    »Wissen Ihre Eltern eigentlich, was Sie in Petersburg treiben?« Seine Stimme war alt und krächzend – aber nicht weniger schneidend. »Ich dulde es nicht, wenn man in meinem Haus Damenbesuch empfängt und schon gar nicht unter solch unmoralischen Umständen.«
    Jekatherina rümpfte ihr Näschen und ignorierte die Bemerkung des Alten geflissentlich. Leonard, an dessen Arm sie sich untergehakt hatte, war für einen Moment pflichtbewusst stehen geblieben. Dass ihn die Äußerungen des Alten peinlich berührten, konnte man ihm mühelos ansehen.
    »Ich denke, über dieses Thema sollten wir heute Abend, wenn ich zurück bin, unter vier Augen reden«, antwortete er Eisenstein leise. »Vielleicht sind Sie mit einer kleinen Mieterhöhung einverstanden?«
    Der Alte ließ von ihm ab und wandte sich zeternd um. Verstehen konnte man ihn nicht. Nur an seinem bebenden weißen Bart, der sich auf seiner Brust in zwei gespinstartige Spitzen teilte, war zu sehen, dass er kopfschüttelnd etwas in sich hineinmurmelte.
     
    Es war erst Mittag; die Kundgebung sollte in den frühen Nachmittagsstunden auf dem weitläufigen Gelände vor dem Zarenpalast stattfinden.
    Schon jetzt waren zahllose Menschen, junge und alte, auf den Beinen; Fahnen schwingend und mit Transparenten versehen; Mütter mit ihren Kindern, aber auch Väter, in deren Gesichtern sich eine Mischung aus Furcht, Hoffnung und Verzweiflung spiegelte. Dazwischen drängten sich Verkäufer, die mit ihren beheizbaren Bauchläden geröstete Sonnenblumenkerne verkauften, und ältere Frauen, die Baranki und Würste |17| feilboten, dazu Kwass, den traditionellen Brottrunk, den sie aus abgescheuerten Holzkannen ausschenkten.
    Überall lagen Flugblätter auf den Straßen, die eine Bittschrift enthielten, die Pater Gapon in Gegenwart des Zaren vorzubringen beabsichtigte: »Wir, die Arbeiter der Stadt Sankt Petersburg, unsere Frauen, Kinder und hilflosen alten Eltern, sind zu Dir, Herrscher, gekommen, um Gerechtigkeit und Schutz zu suchen. Wir sind verelendet, wir werden unterdrückt, über unsere Kraft mit Arbeit belastet, man verhöhnt uns, lässt uns nicht als Menschen gelten. Man behandelt uns wie Sklaven. Wir duldeten all dies, aber man stößt uns immer weiter und weiter in den Pfuhl der Armut, der Rechtlosigkeit und der Unwissenheit. Despotismus und Willkür würgen uns, und wir ersticken. Unsere Kräfte versagen, Herrscher, unsere Geduld ist erschöpft. Wir sind bei dem furchtbaren Augenblick angelangt, in dem der Tod willkommener ist als die Fortsetzung der unerträglichen Qualen …«
    Angeblich sollte es eine friedliche Kundgebung werden, begleitet von frommen Gesängen und stetig dahin gemurmelten Gebeten. Für mehr Rechte für die Bauern und um die Abschaffung der heimlichen Leibeigenschaft wollte man bitten. Denn offiziell erfreuten sich die Menschen in Russland einer unumstößlichen Freiheit, doch in Wahrheit waren die meisten von ihnen geknechtete Kreaturen, die jeden Tag mit ihrer Hände Arbeit ums nackte Überleben kämpften.
    Leonard ließ sich von Katja in die entgegengesetzte Richtung mitziehen. Offenbar wusste sie, wo sie hinwollte. An hohen Mietskasernen und unzähligen Teestuben vorbei ging es Richtung Wassiljewskij-Insel, dort, wo die alte Universität lag und die Straßen keine Namen hatten, sondern in Linien unterteilt waren. An berittenen Kosaken vorbei drängten sie sich über den Tutschkow-Most, eine verhältnismäßig breite Hebe-Brücke, die über die kleine Newa führte und die Petrograder Seite, auf der Leonard wohnte, mit der Universitätsinsel verband. Im Laufschritt eilten sie über den Malyj-Prospekt.
    »Kannst du mir sagen, wo du hin willst?« Leonard fühlte sich unbehaglich. Etwas Bedrohliches lag in der
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