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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
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erzwingen. Sie könnten mich veranlassen, Sie als meinen Nachfolger vorzuschlagen. So könnten Sie auf völlig legitime Weise meine Nachfolge antreten. Sehen Sie das? Natürlich sehen Sie das. Haben Sie so etwas vor?«
    »Nein, wirklich nicht. Vorsitzender wäre das letzte auf der Welt, was ich sein möchte.«
    »Nur zu, Mordechai! Inszenieren Sie einen Staatsstreich, ergreifen Sie die Macht. Ich bin alt und müde, bin dieses Lebens überdrüssig. Ich bin bereit, mich stürzen zu lassen. Ich bewundere Ihre Schläue. Ihre Tat fasziniert mich. Niemand hat mich jemals so gründlich getäuscht, wissen Sie das? Ihnen ist es gelungen, was Tausende von Feinden nicht erreicht haben. Der ruhige, loyale, zuverlässige Doktor Mordechai! Sie haben mich geschlagen. Sie beherrschen mich. Ich bin jetzt Ihre Marionette, sehen Sie das? Nur zu, machen Sie sich zum Vorsitzenden. Sie haben es verdient.«
    »Das ist nicht, was ich will.«
    »Was wollen Sie dann?«
    »Als Ihr Leibarzt weiterarbeiten. Ihre Gesundheit schützen und um die Verlängerung Ihres Lebens bemüht sein. Ihnen zur Seite stehen und dienen, wie mein Eid es von mir verlangt.«
    »Ist das alles?«
    »Das ist alles. Nein, da gibt es noch etwas.«
    »Lassen Sie hören.«
    »Ich möchte, daß Sie meine Aufnahme in den Revolutionsrat vorschlagen und unterstützen.«
    »Ah.«
    »Insbesondere möchte ich Verantwortung auf dem Sektor der öffentlichen Gesundheit übernehmen. Die Gesundheitspolitik der Regierung steuern.«
    »Ah. Ja.«
    »Ich will die Verteilung des Gegenmittels nach anderen Gesichtspunkten vornehmen. Am wichtigsten ist mir die Entwicklung eines Programms zur weltweiten Behandlung der gesunden Bevölkerung«, sagt Schadrach. »Das bedeutet die Ausdehnung und Intensivierung der gegenwärtigen Forschungsprogramme und verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung neuer und besserer Heilmittel. Das wird selbstverständlich die Bereitstellung wesentlich größerer Mittel als bisher erforderlich machen.«
    »Verstehe.« Der alte Mann beginnt zu schmunzeln. »Jetzt kommt es heraus! Sie wollen also doch Vorsitzender sein! Ich behalte den nominellen Vorsitz, aber Sie geben den Takt an. Ist es das, Mordechai? Nun, meinetwegen. Sie haben mich. Ich bin Ihnen ausgeliefert, Doktor. Bei der nächsten Sitzung des Revolutionsrates werde ich Ihre Aufnahme in dieses Gremium vorschlagen. Bringen Sie Ihre gesundheitspolitischen Ziele zu Papier, um sie dem Revolutionsrat vorzutragen.« Er blickte düster zu Schadrachs linker Hand. »Der König ist tot«, krächzt er dann. »Es lebe der König!«
    Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung geht Schadrach durch den Sitzungssaal des Revolutionsrates und den Kontrollraum 1, wo er gewohnheitsmäßig verweilt, um das kaleidoskopische Weltgeschehen auf den Bildschirmen zu betrachten. Im Regierungspalast ist alles still; Mitternacht ist längst vorbei, ganz Asien schläft. Aber anderswo geht das Leben weiter, und auch das Sterben. Schadrach beobachtet den scheinbar wahllosen Strom der Bildinformationen, sieht das Leiden, das Sichabmühen, das Sterben. Die Prozession der Verdammten und Verlorenen, die sich durch die Straßen der Städte schleppen. Irgendwo dort draußen ist Bhischma Das. Irgendwo sind Mischach Jakov und Jim Ehrenreich. Schadrach wünscht ihnen Glück und Gesundheit für den Teil ihres Lebens, der ihnen noch beschieden ist. Glück und Gesundheit euch allen dort draußen! denkt er.
    Die Reaktionen des Vorsitzenden wollen ihm nicht aus dem Kopf. Wie erheitert schien der alte Mann über sein Schicksal! Beinahe erleichtert, daß jemand ihm die höchste Autorität genommen hat. Aber der alte Mann ist unbegreiflich; sein Charakter und sein Denken werden Schadrach immer ein Geheimnis bleiben, fremdartig, unergründlich, undurchschaubar. Schadrach weiß wirklich nicht, was jetzt geschehen wird. Er kann sich nicht vorstellen, welche Gegenstrategie der Vorsitzende bereits ersonnen haben mag, welche Fallen er jetzt aufbauen wird. Schadrach wird sich wachsam und vorsichtig bewegen und das Beste hoffen. Er hat im Vorsitzenden eine Bombe gelegt, ja, aber er hat auch einen Tiger beim Schwanz gepackt, und nun heißt es die Nerven behalten, daß er nicht über die Metaphern stolpere und zerstört werde.
    Er steht wie gebannt vor dem verwirrenden Tanz der Bilder im Kontrollraum. Es ist der 4. Juni 2012, ein Mittwoch. Leichter Regen fällt auf Ulan Bator, das nach einem wackeren Mann benannt werden soll, der bei der Hälfte der Menschheit schon in
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