Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
freizügig in Raum und Zeit, und allmählich wird ihm bewußt, daß er nicht länger allein ist, daß eine Frau neben ihm ist, die ihn am Ärmel zupft und versucht, ihm etwas zu sagen. Er beachtet sie nicht. Er hört himmlische Chöre seinen Namen singen: Schadrach! Schadrach!
    Er erwacht. Er setzt sich auf.
    Er ballt wie im Krampf die Fäuste und hält sie so, fest geschlossen.
    Aus Ulan Bator, vierhundert Kilometer im Osten, kommt der lautlose Schrei der Sensoren, die den anschwellenden Schmerz im Kopf des alten Mannes melden.
    Es geht auf Mitternacht. Die Sperre läßt Schadrach durch, und er begibt sich sofort zum Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber dieser ist nicht da. Schadrach runzelt die Stirn. Der alte Mann ist seit mehreren Tagen soweit wiederhergestellt, daß er das Bett verlassen kann, aber es ist komisch, daß er zu so später Stunde umherwandern sollte. Schadrach findet einen Diener, der ihm verrät, daß der Vorsitzende den Abend in seinem persönlichen Arbeitszimmer verbracht habe und wahrscheinlich noch jetzt dort sei, wenn er nicht schlafe.
    Also weiter. Durch das leere Speisezimmer in die Diele, und von dort in sein eigenes Arbeitszimmer, wo er ein wenig verweilt, um sich zu sammeln, umgeben von seinen vertrauten und geliebten Besitztümern, den Sphygnomanometern und Skalpellen, seinen Schröpfköpfen und Trepaniersägen. Hier ist die authentische Bauchschlagader des Vorsitzenden, verwahrt in Spiritus. Sicherlich ein Schatz der medizinischen Geschichte. Und hier, die neueste Erwerbung seines Privatmuseums: eine Strähne des dicken, fettigen und noch immer von schwarzen Fäden durchzogenen Haars, ein Ausstellungsstück, das vielleicht besser in ein Museum der Zauberkunst und des Wodu-Kults paßt als in ein solches der Medizin, aber dennoch angemessen ist, weil es im Zuge der Vorbereitungen für einen neurochirurgischen Eingriff entfernt wurde, dem der berühmte Patient sich im neunzigsten (oder fünfundachtzigsten oder fünfundneunzigsten) Jahr seines Lebens unterzog. Aber weiter. Sekunden später präsentiert er sich den Überwachungsanlagen in der gesicherten Tür zum privaten Arbeitszimmer seines Schutzbefohlenen und bittet um Einlaß.
    Die Tür rollt zurück.
    Das private Arbeitszimmer des Vorsitzenden liegt abseits und ist gegen alle äußeren Störungsquellen abgeschirmt. Es hat eine niedrige, nachträglich eingezogene Balkendecke, und eine Stehlampe verbreitet gedämpftes Licht. Das Mobiliar ist alt und kostbar, reich verziert mit chinesischem Schnitzwerk, und zu den feinen chinesischen Seidenteppichen gesellen sich orientalische Wandbehänge aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Der alte Mann liegt auf einem Diwan an der linken Wand. Sein rasierter Schädel ist schon wieder mit dünnen Stoppeln bedeckt. Der Mann ist wirklich nicht umzubringen. Aber er sieht verstört aus.
    »Doktor«, sagt er mit seiner krächzenden Altmännerstimme. »Ich wußte, daß Sie kommen würden. Sie spürten es, nicht wahr? Vor ungefähr eineinhalb Stunden. Ich dachte, mein Schädel werde zerspringen.«
    »Ich spürte es, ja.«
    »Sie sagten, Sie würden mir ein Ventil einbauen. Um die Flüssigkeit abzuleiten, sagten Sie.«
    »Das ist auch geschehen.«
    »Funktioniert das Ding nicht richtig?«
    »Es funktioniert ausgezeichnet«, antwortet Schadrach mit sanfter Stimme und undurchdringlicher Miene.
    Der alte Mann blickt unzufrieden und verwirrt zu ihm auf.
    »Was verursachte mir dann vor einer Weile so schlimme Kopfschmerzen?«
    »Dies«, sagt Schadrach. Er lächelt, streckt die linke Hand aus und ballt sie zur Faust.
    Eine Weile geschieht nichts. Dann weiten sich die Augen des alten Mannes vor Schreck und Bestürzung. Er ächzt und hebt die Hände an die Schläfen. Er beißt sich auf die Lippe, neigt den kahlen Kopf und murmelt gequälte, gutturale Flüche. Die eingepflanzten Signalgeber verraten Schadrach einiges über die starken Reaktionen in seinem Gegenüber: Pulsschlag und Atmung steigen besorgniserregend, der Blutdruck sinkt, der Druck im Innern des Schädels hat stark zugenommen. Der alte Mann krümmt sich und stöhnt. Schadrach öffnet die Finger. Allmählich weicht der Schmerz, der angespannte krampfhaft zusammengezogene Körper streckt sich, und Schadrach empfängt keine Schocksymptome mehr.
    Dschingis Khan II. Mao blickt auf. Lang starrt er Schadrach ins Gesicht.
    »Was haben Sie mir angetan?« fragt er mit heiser flüsternder Stimme.
    »Wir installierten ein Ventil in Ihrem Hirnstamm, um die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher