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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
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Gesundheit des Vorsitzenden singen.
    Alles ist still. Die ganze Stadt schläft, ausgenommen jene, die um diese Stunde arbeiten müssen; die Mongolen scheinen nicht unter Schlaflosigkeit zu leiden. Schadrach aber ist kein Mongole. Er ist ein Schwarzer, dunkelhäutig wie ein Nilote, obwohl er kein gebürtiger Afrikaner ist; schlank und langbeinig, mit dichtem Kraushaar, weit auseinanderstehenden Augen, mäßig ausgeprägten Wulstlippen und breiter, doch geradrückiger Nase, ist er unter den mongolischen und chinesischen Bewohnern dieses Landes eine auffallende Erscheinung, vielleicht auffallender, als er gern sein würde.
    Er macht eine Anzahl Kniebeugen, wie er es jeden Morgen auf dem schmalen Balkon zu tun pflegt: er ist sechsunddreißig Jahre alt, und obwohl ihm seine Sonderstellung im Regierungsdienst Zugang zur Ronkevic-Immunisierung garantiert und er frei von der immerwährenden Furcht vor der Organzersetzung leben kann, die die meisten der zwei Milliarden Einwohner der Erde verfolgt, ist sechsunddreißig nichtsdestoweniger ein Alter, in dem man gewissenhaft damit beginnen muß, den Körper gegen die normalen Verfallserscheinungen der Zeit zu schützen. Mens sana in corpore sarto. Ja, er ist bei ausgezeichneter Gesundheit, und seine inneren Organe sind noch dieselben, mit denen er eines frostigen Wintermorgens 1976 geboren wurde. Auf, nieder, auf, nieder, bis er außer Atem kommt. Manchmal erscheint es ihm seltsam, daß seine energische Morgengymnastik den alten Mann nicht aus dem Schlaf reißt, doch der Strom telemetrischer Daten fließt natürlich nur in einer Richtung, und während Schadrach sich auf dem Balkon in Schweiß arbeitet, schnarcht der Vorsitzende ruhig und nichtsahnend weiter.
    Schwitzend und schnaufend vor Anstrengung beschließt er endlich, daß er genug getan hat. Er fühlt sich frisch und aufgeschlossen, macht sich kaum Sorgen wegen des bevorstehenden chirurgischen Eingriffs. Er wäscht sich, kleidet sich an, läßt sich das gewohnte leichte Frühstück bringen und wendet sich seinen täglichen Pflichten zu.
    Als erstes tritt er vor Sperre drei, durch die er jeden Tag in die Wohnräume des Vorsitzenden gelangt. Die Sperre ist eine breite und hohe Bronzetür, die neben den in Relief ausgeführten Symbolen von Partei und Staat ein Dutzend warzenähnlicher Kegel zwischen drei und neun Zentimetern Höhe aufweist. Einige dieser Gebilde beherbergen audiovisuelle Überwachungsgeräte, hinter anderen verbergen sich Waffen von unentrinnbarer Tödlichkeit; und Schadrach hat keine Ahnung, welche dieser Warzen was darstellen. Wahrscheinlich kann morgen eine Laserkanone sein, was heute noch ein verborgenes Fernsehauge mit Mikrofon ist; mit solchen scheinbar willkürlichen Funktionsänderungen gelingt es für den die Sicherheit des Vorsitzenden Verantwortlichen, mögliche Attentäter zu verwirren.
    »Schadrach Mordechai zur Arztvisite beim Vorsitzenden«, sagt er mit klarer, fester Stimme zu der Öffnung, hinter der er das Mikrofon vermutet.
    Sperre drei läßt ein sanftes Summen hören und unterzieht Schadrachs Erklärung einer Analyse durch Stimmenvergleich. Zugleich werden Größe, Gewicht, Haltung, Aussehen, Wärmeabgabe und vieles mehr von unsichtbaren Sensoren überprüft. Entsprechen eine oder mehrere dieser Einzeldaten nicht der gespeicherten Norm, so wird automatisch die Wache alarmiert, um den Besucher einer genaueren Kontrolle zu unterziehen. Fünf solcher Sperren schützen die fünf Zugänge zum Wohntrakt des Vorsitzenden; es sind die ausgeklügeltsten Türen, die je entwickelt wurden. Selbst Daidalos hätte für König Minos keine bessere Barriere schmieden können.
    Schadrach wird im Handumdrehen identifiziert; die Tür öffnet sich mit einem sanften hydraulischen Seufzen und gleitet auf Kugellagern zurück. Der Arzt betritt eine innere Kammer, die kaum Raum genug bietet, um darin zu stehen. Hier muß er abermals warten, während der gesamte Überprüfungsvorgang wiederholt wird, und erst nachdem er diese zweite Probe bestanden hat, darf er die Wohnräume des Vorsitzenden betreten. »Umsicht«, hat der Vorsitzende einmal erklärt, »ist der Weg zum Überleben.« Schadrach stimmt ihm zu. Das Durchschreiten dieser Sperren ist eine Kleinigkeit für ihn, Teil der gewohnten Tagesordnung und kaum lästiger als die Notwendigkeit, einen Schlüssel ins Schloß zu stecken und umzudrehen.
    Jenseits der Sperre betritt Schadrach – die Repräsentationsräume liegen auf der anderen Seite der Suite – einen
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