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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
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ovalen kleinen Saal, der als Kontrollraum 1 bekannt ist und im buchstäblichen Sinne das Fenster des Vorsitzenden zur Welt darstellt. Große Bildschirme bedecken ringsum die Wände vom Boden bis zur Decke und bieten ein sich ständig veränderndes Panorama von Fernsehbildern, übertragen von Tausenden von verborgenen Kameras in allen Teilen der Erde. Kein großes öffentliches Gebäude ist ohne Fernsehkameras; sie blicken auf die Hauptstraßen aller Großstädte herab, überwachen alle Plätze und Bahnhöfe. Zahlreiche Ingenieure und Techniker im Dienst der Sicherheitspolizei sind ständig damit beschäftigt, die Kameras in neue Aufnahmepositionen zu bringen und an bisher nicht überwachten Orten zu installieren. Auch sind nicht alle Fernsehkameras in festen Positionen; viele Spionagesatelliten aus Vorkriegszeiten ziehen noch immer ihre Bahnen am Himmel und liefern Informationen, die in das Netz der Übertragungen eingegliedert werden können. In der Mitte des Kontrollraums 1 steht ein großes Steuerpult an dem durch die Wahl von Zahlen- und Buchstabenkombinationen in Sekundenschnelle die Bildübertragung jeder beliebigen Aufnahmekamera eingeschaltet werden kann, so daß der Vorsitzende nach seinem Dafürhalten einzelne Aspekte Tokios oder Bangkoks oder New Yorks oder Moskaus überblicken oder aber ganze Bildfolgen aus sämtlichen Aufnahmekameras einer Stadt abrufen kann.
    Wenn der Vorsitzende oder seine Sicherheitsbeauftragten vom Kontrollraum 1 keinen Gebrauch machen, dauert die Übertragung in der jeweils zuletzt gewählten Einstellung ohne Unterbrechung an, teils von stationären Aufnahmepunkten aus, teils in Form unablässig ablaufender Sequenzen wechselnder Standorte. Schadrach, der auf dem Weg zu seinem Herrn jeden Morgen durch diesen Raum gehen muß, hat die Gewohnheit angenommen, ein paar Minuten hier zu verweilen und den schwindelerregenden Strom bunter Bilder zu betrachten. In seinem persönlichen Sprachgebrauch bezeichnet er dieses tägliche Zwischenspiel als >Blick in die Traumastation<, wobei die Traumastation Schadrachs Geheimbezeichnung für die Welt im allgemeinen ist, dieses große Tal der Tränen und des körperlichen Verfalls.
    Er bleibt mitten im Raum stehen und betrachtet die Kümmernisse der Welt.
    Ein schäbiger, offensichtlich herrenloser Hund bewegt sich langsam und hinkend durch eine mit Unrat verstopfte Straße. Ein großäugiges Negerkind mit auf getriebenem Bauch steht nackt auf einem staubigen Platz zwischen Bretter- und Wellblechhütten, lutscht am Daumen und weint. Eine alte Frau mit hängenden Schultern, die eben noch sorgfältig eingewickelte Bündel über das Kopfsteinpflaster irgendeiner freundlichen alten europäischen Stadt getragen hat, bleibt keuchend stehen und greift sich ans Herz, läßt die Pakete fallen und bricht zwischen ihnen zusammen. Ein ausgedörrter, orientalisch aussehender Mann mit einem silberweißen Bart tritt aus einem Laden, hustet und spuckt Blut. Eine Menschenmenge – Mexikaner? Japaner? – hat sich um zwei Jungen versammelt, die sich mit Taschenmessern duellieren; ihre Oberkörper und Arme sind voll von Schnittwunden und glänzen rot. Hunderte von Menschen leisten auf der Suche nach brauchbaren Materialien Ausgräberarbeit in einer zugeschütteten Mülldeponie früherer Zeiten. Eine dunkelhaarige junge Frau krümmt sich in einem Rinnstein, während zwei kleine Jungen gleichgültig zusehen. Eines der selten gewordenen Automobile kommt von der Straße ab und verschwindet über die verwachsene Böschung. Kontrollraum 1 ist wie ein riesiger Gobelin mit hundert fragmentarischen Szenen, quälenden, sich dem Verstehen entziehenden Bildern. Dort draußen in der Welt, in der großen Traumastation, gehen trotz der enormen Anstrengungen des Permanenten Revolutionsrates zwei Milliarden Menschen allmählich zugrunde. Das ist an und für sich nichts Neues – jedermann, der jemals gelebt hat, ist während seines Lebens allmählich gestorben –, aber in den Jahren nach dem Viruskrieg sind die Todesarten andere geworden. Der Tod erscheint sehr viel bedrohlicher und unmittelbarer, wenn so viele Menschen an der Zersetzung ihrer inneren Organe dahinsiechen; und der allgemeine Zerfall dort draußen wird um so schmerzlicher empfunden, als er hier wie von einer ungeheuren Linse gebündelt in seiner Totalität sichtbar wird. Die Fernsehaugen fangen alles ein, aber sie geben keinen Kommentar und urteilen nicht, sondern beschränken sich darauf, die Wände mit einem
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