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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen
Autoren: Robert Silverberg
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bestürzenden und erschreckenden Porträt der Menschheitssituation in der Nachkriegszeit des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts zu versehen.
    Der Raum ist auch ein Prüfstein des Charakters, der jedem Betrachter aufschlußreiche Reaktionen entlockt. Für Schadrach ist die nichtendenwollende Szenenfolge faszinierend und abstoßend zugleich, ein irres Mosaik aus Zerfall und Niederlage, Mut und Ausdauer; er liebt und bemitleidet die Dulder, die so flüchtig über die Bildschirme huschen, und wenn er es könnte, er würde sie alle umarmen – würde der alten Frau aufhelfen, dem Bettler Geld in die abgemagerte Hand drücken, dem hungernden Kind Unterkunft und Nahrung geben. Aber er ist Arzt, aus Neigung und von Berufs wegen.
    Anderen dient das brutale Theater im Kontrollraum 1 lediglich als eine Erinnerung und Bestätigung ihres eigenen Glücks: wie klug von ihnen, eine ranghohe Position in Verwaltung oder Regierung erlangt zu haben, und damit das Anrecht auf regelmäßige Zuteilungen der Ronkevic-Immunisierung! Wie angenehm, frei von Schmerzen, Hunger und Organzersetzung zu leben, abgeschirmt vom Alptraum der gewöhnlichen Existenz! Wieder andere finden die Bildschirme unerträglich, weil sie in ihnen nicht ein Gefühl selbstzufriedener Überlegenheit wachrufen, sondern Empfindungen eines bedrückenden Schuldbewußtseins angesichts der Tatsache, daß sie selbst sich eines sicheren Daseins in Amt und Würden erfreuen sollten, während die große Mehrheit dort draußen dahinvegetiert, einem unbarmherzigen Schicksal ausgeliefert. Und schließlich gibt es die Abgebrühten, die beim Betrachten der Bildschirme lediglich Langeweile verspüren. Ihnen zeigen die Bilder Rahmen ohne Handlung, sinnloses Hin und Her, Tragödien ohne moralische Bedeutung, willkürliche Schnappschüsse aus der Dürftigkeit des Lebens.
    Was dem Vorsitzenden durch den Kopf gehen mag, wenn er im Kontrollraum 1 ist, weiß niemand zu sagen, denn der alte Mann zeigt hier wie in den meisten Situationen die undurchdringliche Maske asiatischer Selbstzucht. Aber er verbringt Stunden in diesem Raum. Die Bilder müssen ihm etwas sagen, ihr Eindruck muß in dieser oder jener Form in seine Entscheidungen eingehen.
    Schadrach Mordechai läßt sich Zeit, verweilt fünf, acht, volle zehn Minuten im Kontrollraum. Der Vorsitzende schläft noch immer, verraten ihm die eingepflanzten Monitore. In dieser Welt entgeht niemand der Überwachung; während die ungezählten Augen des Staates den gesamten Erdkreis durchmustern, wird das schlummernde Staatsoberhaupt seinerseits vom Leibarzt überwacht. Der bewegungslos in der Mitte des Kontrollraums stehende Schadrach empfängt in diesen Augenblicken eine Flut von äußeren und inneren Informationen. Die Stoffwechselvorgänge im Vorsitzenden erscheinen im Körper des Arztes als zwickende und kitzelnde Signale, nicht weniger real als das ineinanderfließende Flimmern der zahlreichen Bildschirme vor seinen Augen. Er wendet sich zum Gehen, doch in diesem Augenblick erblickt er auf einem Bildschirm weit oben zu seiner Linken eine Ansicht, die aus Philadelphia stammen muß, unverkennbar, und bleibt wie angewurzelt stehen. Seine Heimatstadt: er ist im Jahr der großen Zweihundertjahrfeier geboren, in Benjamin Franklins Stadt, hoch oben in der Hahnemann-Klinik, als die Vereinigten Staaten vier Monate vor ihrem zweihundertsten Geburtstag standen, und da ist Philadelphia jetzt, wie es sich vom jenseitigen Ufer des Delaware ausnimmt: die vertrauten Baukörper des Rathauses, des Unabhängigkeitstempels, des Penn-Centers und der Christuskriche. Es ist Jahre her, seit er zuletzt dort war. Schadrach Mordechai hat die letzten zehn Jahre in der Mongolei verbracht. Früher hatte er kaum glauben können, daß es wirklich ein Land wie die Mongolei gab, die exotische und mystische Heimat eines Dschingis Khan und seiner Nachfahren, aber inzwischen erscheint ihm Philadelphia fremd und unwirklich. Und die Vereinigten Staaten von Amerika? Haben diese Wörter noch eine Bedeutung? Wer hätte in den Jahren seiner Kindheit geglaubt, daß die Verfassung Jeffersons und Madisons noch zu seinen Lebzeiten in Vergessenheit geraten und daß Amerika in eine revolutionierte Welt eingegliedert würde, deren Galionsfigur ausgerechnet ein Mongole sein sollte, ein Mann, der sich bedenkenlos mit den Namen Dschingis Khans und Maos schmückte und in seinem Alter noch zusehends dem Größenwahn zu verfallen schien? Aber das ist überspitzt: Schadrach weiß, daß die
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