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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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Jetzt hätten wir beinah geschrieben, dass die Besonderheit des Örtchens darin bestand, keine Besonderheit aufzuweisen, aber das ist nicht ganz richtig. Sicher gibt es auch andere Orte, in denen die allermeisten Häuser nicht älter als neunzig Jahre sind, Orte, die sich nicht mit irgendwelchen Berühmtheiten schmücken können, mit Menschen, die sich im Sport oder in der Politik hervorgetan haben, im Wirtschaftsleben, in der Literatur oder in der Welt des Verbrechens. Eins scheinen wir anderen Orten dieser Art aber vorauszuhaben: hier gibt es keine Kirche. Und auch keinen Friedhof. Dabei hat es wiederholt Versuche gegeben, diese Sonderstellung zu ändern, und eine Kirche hätte der Umgebung zweifellos eine andere Wirkung verliehen, leises Geläut von Kirchenglocken kann deprimierte Menschen wieder aufrichten, Glocken tragen uns Neuigkeiten aus der Ewigkeit zu. Und auf Friedhöfen wachsen Bäume, in denen Vögel sitzen und singen. Sölrün, die Leiterin der Vorschule, hat schon zweimal versucht, Unterschriften für drei Dinge zu sammeln: für eine Kirche, für einen Friedhof und für einen Pfarrer. Das Höchste, was sie zusammenbrachte, waren dreizehn Namen, und das reicht nicht für einen Pastor, geschweige denn für eine Kirche oder gar einen Friedhof. Wir sterben selbstverständlich wie andere auch, aber viele von uns erreichen doch ein hohes Alter, prozentual gibt es nirgends im Land mehr Menschen über achtzig, was sich vielleicht als Besonderheit Nummer zwo anführen lässt. Etliche unserer Mitbürger gehen auf die hundert zu, der Tod scheint sie vergessen zu haben, und wir hören sie in den Abendstunden kichern, wenn sie auf dem Platz hinter dem Altersheim Minigolf spielen. Bis jetzt hat noch niemand eine Erklärung für dieses hohe Durchschnittsalter gefunden, aber ob es nun an der Ernährung, der Einstellung zum Leben oder der Ausrichtung der Berge liegen mag, unbedingt haben wir unsere hohe Lebenserwartung jedenfalls dem Umstand zu verdanken, dass es weit bis zum nächsten Friedhof ist; und deswegen zögern wir, Sölrüns Liste zu unterschreiben, insgeheim überzeugt, dass der, der das tut, sein eigenes Todesurteil unterzeichnet und den Tod geradezu herbeiruft. Das ist bestimmt blanker Unsinn, aber wenn der Tod im Spiel ist, können selbst wilde Spekulationen überzeugend wirken.
    Ansonsten gibt es nichts Bemerkenswertes über uns zu sagen.
    Ein paar Dutzend Einfamilienhäuser stehen hier herum, die meisten mittelgroß und von uninspirierten Architekten oder Ingenieuren entworfen. Schon merkwürdig, was für geringe Anforderungen wir an Menschen stellen, die derart unsere Umgebung prägen. Außerdem gibt es drei Reihenhäuser mit je sechs Wohnungen und ein paar hübsche Holzhäuser aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das älteste ist achtundneunzig Jahre alt, 1903 erbaut und so morsch, dass große Autos lieber ganz langsam daran vorbeifahren. Die größten Gebäude sind der Schlachthof, die Molkerei, der Genossenschaftsladen und die Strickfabrik, keins von ihnen sieht ansprechend aus, dafür gibt es aber eine kurze Mole, die vor fünfzig Jahren ins Meer hinausgebaut wurde. Nie legen dort Schiffe oder Boote an, aber es macht Spaß, von der Mole zu pinkeln, hört sich lustig an, wenn der Strahl aufs Meer plätschert.
    Der Ort liegt ungefähr in der Mitte des Bezirks, im Norden, Süden und Osten von verstreuten Bauernhöfen umgeben, im Westen vom Meer. Es ist schön, über den Fjord zu blicken, auch wenn es darin seit eh und je keinen Fisch gibt. Im Frühjahr lockt der Fjord fröhliche und zuversichtliche Watvögel an, manchmal liegen Muscheln am Strand, und in der Ferne erheben sich Tausende kleiner Inselchen wie eine lückenhafte Zahnreihe aus der See; abends verblutet die Sonne daran, und dann denken wir an den Tod. Du bist vielleicht der Ansicht, es sei nicht gesund, an den Tod zu denken, es ziehe den Menschen herab, mache ihn fertig, erfülle ihn mit Verzweiflung, belaste das Herz-Kreislauf-System, wir aber behaupten, man müsse buchstäblich schon tot sein, um nicht an den Tod zu denken. Hast du andererseits schon einmal darüber nachgedacht, wie viel vom Zufall abhängt? Vielleicht alles. Das kann ein verdammt unangenehmer Gedanke sein, Zufallsereignisse haben selten Hand und Fuß, und unser Leben ist kaum etwas anderes als ein zielloses Herumtreiben, dieses Leben, das sich in alle Richtungen auszudehnen scheint und dann mitten in einem Satz abbricht – vielleicht wollen wir dir genau darum
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