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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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keiner weiß, wie es passieren konnte, aber Simmi, dieser geübte Reiter, fiel vom Pferd. Die Schönheit hat mich aus dem Sattel gehauen, pflegte er später zu sagen, aber manch einer behauptete, er habe sich einfach fallen lassen, in einem Anfall rasender Verzweiflung oder spontaner Verrücktheit. Er brach sich einen Oberschenkel und prellte sich einen Arm, und so lag er dann da, kein Arzt im Ort, der alte war gerade drei Tage zuvor gestorben, verdammter Hund, dieser dämliche Guöjön, und ein neuer würde nicht vor Ablauf einer Woche eintreffen, bis dahin hatten wir gefälligst gesund zu bleiben, Herzkranke sollten es ruhig angehen lassen, und da fällt dieser Simmi vom Pferd. Sie läuft zu ihm, beugt sich über ihn, die Augen blauer als sonst was. Eigentlich hätte man ihn ins Krankenhaus in der Hauptstadt bringen müssen, aber solchen Aufwand und derartiges Brimborium mögen wir hier nicht, und so sprang der Tierarzt ein und machte seine Sache gut, Simmi hinkt heute nur noch ganz wenig. Jene Minuten aber, in denen sie sich über ihn beugte und ihn mit ihrem süßen und warmen Duft anhauchte, sind nach wie vor die kostbarsten in seinem Leben, Augenblicke, die er sich wieder und wieder ins Gedächtnis ruft. Sie dagegen denkt wahrscheinlich nicht gern an den Vorfall zurück, denn es war der Zeitpunkt, an dem sie erfahren hatte, dass ihr Mann für die Sternenbotschaft von Galileo den Range Rover und auch den Toyota verkauft hatte. Ihm erschien das so vollkommen selbstverständlich, dass er ihr nicht einmal davon erzählt hatte, was vermutlich das Allerschlimmste an der Sache war, jedenfalls hatte sie zu toben begonnen, so wütend und verzweifelt, dass sie kaum Luft holen konnte, ihre Welt zerfiel um sie her, und da kam dieser Reiter angehoppelt.
    Es zerreißt etwas in dir, zum Beispiel eine Saite deines Herzens, wenn der Mensch, den du in- und auswendig zu kennen meinst, der dich innerlich in Brand gesteckt hat, den du geheiratet, mit dem du Kinder bekommen, ein Heim gebaut hast und mit dem du viele Erinnerungen teilst, eines Tages urplötzlich wie ein Fremder vor dir steht. Natürlich ist es Unfug, zu glauben, man würde einen anderen wirklich in- und auswendig kennen, immer gibt es noch irgendwo einen tief im Schatten verborgenen Winkel, ganze Gelasse womöglich, aber gut, sie also war mit einem noch leidlich jungen Mann verheiratet, der über gesellschaftlichen Einfluss verfügte, der zu den Stützen der Gesellschaft zählte, ein ziemlich aussichtsloses Unternehmen blühte unter seiner Leitung auf und warf sogar Gewinn ab, er war ein Vorbild, er war ein Hoffnungsträger, doch dann fing er an, auf Latein zu träumen, fuhr in die Stadt, um diese Sprache zu lernen, kam mit neuen Augen zurück und verkaufte im nächsten Jahr seine Autos, um damit ein paar alte Schwarten zu bezahlen. Verglichen damit ist der Fall eines Reiters vom Pferd eine Lappalie, und doch ist das alles erst der Anfang. Die Tage erhoben sich im Osten und versanken im Westen, der Astronom wurde in der Strickfabrik kaum noch gesehen, und Agüsta legte nicht selten den Weg von der Post zum Privathaus dieses Paares zurück und überbrachte neue Sendungen, manche mit Vorsicht in neun Sprachen gekennzeichnet.
    Drei oder vier Wochen, nachdem der Italiener Galileo die Eheleute um ihre beiden Autos gebracht hatte, erhielt der Astronom ein noch älteres Buch. De revolutionibus orbium coelestium oder Über die Kreisbewegungen der Weltkörper von Nikolaus Kopernikus, erschienen 1543. Es kostete ein kleines Sümmchen, das Eigenheim der beiden hätte gerade so gereicht, aber die Geduld derjenigen, nach der sich manch einer sehnt, reichte nicht mehr und sie riss endgültig, als ihm die Schriften Johannes Keplers zugestellt wurden, die Rudolfinischen Tafeln, die Weltharmonik in fünf Büchern und Somnium oder Der Traum. Schon bevor sie in der Postfiliale eintrafen, hatten etliche versucht, den Astronomen zur Räson zu bringen, der Filialleiter der Bank, der Landrat, der Schulrektor, der Betriebsrat der Strickereibelegschaft. Sie hatten ihn gefragt: Was machst du eigentlich mit eurem Leben, du lässt es für Bücher vor die Hunde gehen, du löst eure Sparbücher auf, verlierst das Haus, du verspielst dein Leben, krieg dich wieder ein, nimm Vernunft an! Aber es war völlig umsonst, er schaute die Leute bloß mit seinen neuen Augen an, lächelte, als würde er sie bedauern, und sagte etwas auf Latein, was kein Mensch verstand. Das Weitere muss nicht eigens
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