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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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ausgeführt werden, fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen, mittlerweile besitzt er rund 3000 Bücher, und es werden noch mehr, sie bedecken die Wände des kleinen Hauses, nicht wenige sind auf Latein geschrieben wie die meisten von denen, die ihn um Schönheit, Luxus und Familienleben brachten.
    Kurz nachdem Agüsta das Paket mit den Schriften Keplers zugestellt hatte, zog die Frau mit der Tochter nach Reykjavik, Davið hingegen blieb bei seinem Vater, der das zweigeschossige Holzhaus hier gleich oberhalb des Ortskerns kaufte, das seit dem Tod der alten Bogga leer gestanden hatte, von dem niemand etwas ahnte, bis der Wind drehte und der Gestank über die Häuser bis zur Molkerei zog. Auch in kleinen Orten gibt es Einsamkeit. Als der Astronom das Haus erwarb, glich es einem ausgedienten alten Klepper, halbblind und in den letzten Zügen, aber er ließ das morsche Holz durch frisches ersetzen und die gesprungenen Fensterscheiben durch neue stell dir nur einmal vor, wir könnten morsche Weltbilder und sterbende Kulturen ebenso leicht erneuern -, dann ließ er das gesamte Haus pechschwarz streichen, bis auf ein paar weiße Punkte auf drei Seiten und dem Dach. Die Punkte stellten seine Lieblingssternzeichen dar: den Großen Wagen, die Pleiaden, Kassiopeia und Boötes den Hirten oder Bärenführer. Die vierte Seite ist komplett schwarz, sie geht nach Westen, aufs Meer, und bezeichnet das Ende der Welt. Nicht besonders aufmunternd, aber es ist wenigstens die der Straße abgewandte Seite. Wenn man aus den südlichen Tälern kommt, ist das Haus des Astronomen das Erste, was man von unserem Ort sieht; tagsüber wirkt es, als sei ein Stück des Nachthimmels zur Erde und auf unseren Ort gefallen. Im Dach des Hauses befindet sich ein großes, zu öffnendes Fenster, und spätabends lugt oft ein Teleskop heraus, ein Auge, das die Fernen zu sich heransaugt, Dunkelheit und Licht. Mittlerweile lebt er allein im Haus, Davið ist mit siebzehn in ein anderes Haus mitten im Ort gezogen, und zuweilen lauscht er dem Geräusch, mit dem das Winterdunkel gegen die Fensterscheiben der Häuser drück.

Drei
    In den besten Zeiten waren bei Prjónastofa, der Strickerei, zehn Mitarbeiter beschäftigt, was für einen Ort von vierhundert Einwohnern nicht wenig ist. 1983 war sie in drei Monaten erbaut worden, 380 Quadratmeter auf zwei Stockwerken. Wer im Obergeschoss aus dem Fenster schaut, blickt über das Dach des Schlachthofs hinweg auf den Fjord. Die Fabrik wurde vom Staat errichtet, und derartige Gebäude wachsen so langsam und zögerlich, dass man den Eindruck bekommt, der Bau könne jeden Tag eingestellt werden, und allmählich vergessen die Leute den ursprünglichen Bestimmungszweck des Bauwerks. Doch so vieles ist vom Zufall abhängig. Die Farben auf den Bergen, der Frühjahrsschnupfen, das Bautempo von Häusern. In dem Fall lag es an zwei Parlamentsabgeordneten und einem Besäufnis. Der eine war aus der konservativen Fortschrittspartei, der andere aus dem ehemaligen Sozialistenbündnis. Im Lauf der Nacht schlossen sie eine Wette darauf ab, wer von beiden in seinem Wahlkreis schneller ein Unternehmen mit zehn Angestellten in neuen Räumlichkeiten aus dem Boden stampfen könne. Dem verdankt Prjónastofa ihre Entstehung. Unter der tatkräftigen und eifrigen Leitung des blutjungen Geschäftsführers, der eigentlich gerade auf dem Sprung stand, die Welt zu erobern, als ihm der Mann von der Fortschrittspartei den Job anbot, nahm die Fabrik im Herbst 1983 den Betrieb auf. Es folgten zehn helle und erfolgreiche Jahre. Im Erdgeschoss tickten die Maschinen, im Obergeschoss lagen Kantine, Toiletten und sogar eine Dusche, und dem Jungmännerverein des Orts war dort für seine Aktivitäten ein Raum überlassen worden. Gute Jahre; uns kamen sie vor wie der Anfang von etwas Großem, wir waren überzeugt, dass unser Dorf nicht ausbluten würde wie so viele andere. Wir sahen zum Fabrikleiter auf und fühlten uns sicher. Die Maschinen klickten, und ein Strom von Strümpfen, Pullovern, Mützen und Handschuhen wuchs aus ihnen hervor. Es gab schöne Momente, da kam man in den Genossenschaftsladen und sah fünf Bauern im Gespräch beieinanderstehen, die alle Kleidung aus unserer Strickfabrik trugen. Damals gab es noch Schönheit und Harmonie in der Welt, und wir vermissen diese Zeiten. Aber alles geht einmal zu Ende, und das ist die einzige Gewissheit, auf die man sich in diesem Leben verlassen kann. Tu igitur nihil vidis. Der Fabrikleiter träumt auf Latein und
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