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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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verwandelt sich in einen Sterngucker, der Geländewagen, Haus, Frau, Familienleben und eine glänzende Zukunft aufgibt und sich dafür den Himmel und ein paar alte Bücher einhandelt. Eines Tages Mitte der neunziger Jahre wurden die Maschinen aus dem Erdgeschoss auf einen großen Laster verladen, und es begannen schwere Monate, Sonne und Mond schienen durch die Fenster in eine leere Fabrikhalle.
    Es wäre ungerecht von uns, den Traumgespinsten eines einzigen Mannes diese schlimmen und bedrückenden Veränderungen zuzuschreiben; du würdest darüber wahrscheinlich den Glauben an die Richtigkeit unserer Darstellung und sogar an unsere Glaubwürdigkeit verlieren, und wozu sollten wir dann noch weitererzählen? Die Maschinen der Strickerei wurden anderswohin verfrachtet, in einen Ort im Osten, in dem sie dringender gebraucht wurden, wo noch mehr Wählerstimmen arbeitslos herumliefen. Sicher hätte es etwas geändert, wenn sich der Geschäftsführer dagegen ausgesprochen hätte; es fällt schon ins Gewicht, wenn umfassende Kompetenz, ein neuer Geländewagen und maßgeschneiderte Anzüge Widerstand leisten. Wir wissen nicht mehr ganz genau, wie lange das Erdgeschoss der Fabrik leer stand, aber ein ganzes Jahr lang kassierte der Astronom noch als Geschäftsführer eines Geisterhauses seine üppigen Bezüge. Die einfachen Mitarbeiter hingegen landeten gleich auf der Straße, neun Angestellte, sieben Frauen und zwei Männer. Die Männer fielen auf die Füße, sprachen mit ein paar alten Kumpeln aus dem Fußballverein, aus der Schule oder dem Rotaryklub; diese Welt ist doch eine Männerseilschaft. Der eine, Gunnar, wurde Assistent unseres Elektrikers Simmi, der andere, Asgrimur, aber Ossi genannt, wurde Gehilfe von Klempner, Maurer und Schmied, teilt seine Arbeitszeiten zwischen ihnen auf und hat sich mit der Zeit zu einem vielseitigen und gefragten Handwerker entwickelt. Ossi dankt der Vorsehung täglich, dass sie die Strickmaschinen anderswohin geschickt hat, näher zum Sonnenaufgang.
    Von den sieben Frauen sind fünf noch immer arbeitslos, obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen sind. Fünf arbeitslose Frauen, das macht zusammen zehn beschäftigungslose Hände. Die beiden anderen Frauen hatten mehr Glück. Von Elisabet berichten wir später mehr, die andere, Helga, sitzt fünf Tage die Woche zwischen 8 und 17 Uhr am Telefon.
    Wahrscheinlich hat unsere Schulleiterin, Sólrún, Helgas Stelle geschaffen. Sólrún machte sich seit langem Sorgen über den Stress, das Übel unserer Zeit, über das Tempo, die Belastung, das Leben. Sie zog irgendwo im System an den Strippen, schrieb Briefe, redete mit maßgeblichen Leuten, und man setzte Helga ans Telefon, wo sie noch heute sitzt. Ihre Arbeit, die eine Art Projekt oder Innovation darstellt – wir kennen uns mit den Begriffen nicht so aus -, besteht darin, ihren Anrufern zuzuhören, hier und da ein Wort einzuwerfen, vielleicht auch mal einen ganzen Satz, und ansonsten aber unter allen Umständen die Ruhe zu bewahren. So einfach ist das; dabei ist es vielleicht gar nicht so einfach. Manche Leute rufen bloß an, um ein Schwätzchen zu halten, fühlen sich allein, wollen nur einmal jemand anderen atmen hören, andere hingegen müssen einmal alles loswerden, all das Nichtauszuhaltende, die ganze Unruhe und Zappeligkeit, die unsere kurzatmige Gegenwart in uns aufwühlt. Sölrun behauptete, Helgas Arbeit würde Leuten den Stress abnehmen, anderen die brennende Einsamkeit erleichtern. Stress nannte sie in einem der von ihr geschriebenen Briefe »ein Phänomen, das sich in uns aufstaut und das ab und zu einmal abgelassen werden muss«.
    Helga ist um die vierzig, unverheiratet, hat ein Kind und einen schönen, weichen Hals. Der Vater ihres Kindes, ein Bauer im Süden des Landkreises, denkt oft an sie und an den Hals, den er in Gedanken oft küsst; genau wie wir vielleicht. Sie mag ihre Arbeit, sie vertieft sich in dicke Wälzer über Psychologie, liest Bücher, die versuchen, unsere Zeit zu deuten, viele von ihnen sind auf Englisch, und Helga ist oft dankbar, dass sie den Job in der Strickfabrik los ist. Natürlich gibt es auch schwierige Tage, an denen Leute anrufen, die dermaßen fertig sind vom Stress, dass sie nur noch brüllen können, oder sie sind so aufgeregt und wütend, dass sie Helga beschimpfen, das erleichtert. Nach einer Weile geht es ihnen besser, aber von Helgas Ohren kräuselt abends noch leichter Brandgeruch auf, wenn sie für sich und ihre Tochter den Tisch deckt.
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