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Denen man nicht vergibt

Titel: Denen man nicht vergibt
Autoren: Catherine Coulter
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    San Francisco
    Nick saß schweigend im Hauptschiff der Kirche. Sie hatte die Oberarme auf die Vorderbank gestützt und den Kopf darauf gelegt. Sie war nur deshalb hier, weil Vater Michael Joseph sie gebeten, ja, angefleht hatte, zu kommen, sich doch um Gottes willen von ihm helfen zu lassen. Da war es wohl das Mindeste, dass sie mit ihm redete, oder? Sie hatte darauf bestanden, spät abends zu kommen, wenn alle Welt schon im Bett lag, die Straßen leer und verlassen waren. Er hatte nichts dagegen gehabt, hatte ihr sogar ein Lächeln geschenkt. Was für ein guter Mensch er war - so freundlich und liebevoll im Umgang mit seinen Mitmenschen, so fest im Glauben an seinen Gott.
    Sollte sie noch länger warten? Sie seufzte bei dem Gedanken. Sie hatte ihm ihr Wort geben müssen, auf ihn zu warten. Als wüsste er, dass sie das, mehr als alles andere, hier festhalten würde. Sie sah ihn zu einem der Beichtstühle hinübergehen. Überrascht fiel ihr auf, wie seine Schritte auf einmal schleppend wurden, wie er stehen blieb, fast widerwillig nach dem kleinen Knauf an der Tür des Beichtstuhls griff. Er will überhaupt nicht da rein, schoss es ihr durch den Sinn. Er würde die Tür am liebsten gar nicht aufmachen. Dann jedoch schien er sich einen Ruck zu geben, öffnete die schmale Holztür und betrat den Beichtstuhl.
    Abermals versank das große Kirchenschiff in Stille. Selbst die Luft schien zu verharren, seit Vater Michael Joseph den winzigen Verschlag betreten hatte. Nun waren die finsteren Schatten nicht länger zufrieden, nur die Ecken und Winkel der Kirche zu füllen, sie begannen, auch den Mittelgang entlangzukriechen, als wollten sie auch sie verschlingen. Schon bald saß sie in der Dunkelheit, nur von einem dünnen Streifen Mondlicht unterbrochen, das durch die hohen Buntglasfenster hereinfiel.
    Es hätte nun vollkommen friedlich sein müssen, aber das war es nicht. Etwas Fremdes schien die Kirche zu erfüllen, etwas ganz und gar nicht Friedvolles oder gar Heiliges. Unbehaglich rutschte Nick auf ihrer Bank hin und her.
    Dann hörte sie eine Außentür aufgehen. Sie wandte sich um und sah den Mann, der um diese mitternächtliche Stunde noch seine Beichte ablegen wollte. Mit forschen, energischen Schritten betrat er die Kirche. Er sah recht gewöhnlich aus, ein schlanker, unscheinbarer Mann mit dicken schwarzen Haaren und einem langen Trenchcoat. Sie sah, wie er kurz stehen blieb, sich umschaute und dann weiter zum Beichtstuhl ging, in dem Vater Michael Joseph ihn erwartete. Dort im Dunklen, wo sie saß, war sie nicht zu sehen. Sie beobachtete, wie er im Beichtstuhl verschwand.
    Wieder herrschte Totenstille, und sie selbst war jetzt ein Teil der Schatten. Neugierig spähte sie zu dem im Halbdunkel liegenden Beichtstuhl hinüber. Es war nichts zu hören.
    Wie lange so eine Beichte wohl dauerte? Sie als Protestantin hatte keine Ahnung. Na ja, je länger und schwerwiegender das Sündenregister, desto länger wohl auch die Beichte, dachte sie, und ein Schmunzeln erhellte wie ein flüchtiger Sonnenstrahl ihre verhärmten Züge.
    Plötzlich wurde sie von einem kalten Luftzug erfasst, der sich für einen langen Moment an ihr festzusaugen schien. Seltsam, dachte sie und zog ihre fadenscheinige Jacke enger um sich.
    Wieder wanderte ihr Blick zum Altar, vielleicht auf der Suche nach göttlicher Erleuchtung, nach einem Zeichen, irgendetwas. Lächerlich.
    Wenn Vater Michael Joseph fertig war und Zeit für sie hatte, was sollte sie ihm sagen? Sich von ihm die Hand halten lassen und ihm ihr Herz ausschütten? Nein, wirklich nicht. Ihr Blick hing am Altar, dessen fließende Umrisse im Halbdunkel seltsam vage, weich, ja überirdisch wirkten.
    Vielleicht wollte Vater Michael Joseph einfach, dass sie hier in vollkommener Stille und Ungestörtheit saß, allein mit sich und Gott. Ihr kam der Gedanke, dass es ihm wichtiger war, dass sie mit Gott redete, als mit ihm. Aber sie konnte nicht beten. Es ging einfach nicht. Zumindest nicht jetzt.
    So viel war geschehen und gleichzeitig so wenig. Frauen, die sie nicht gekannt hatte, waren tot. Sie lebte noch. Zumindest jetzt noch. Er war so mächtig, hatte überall Verbindungen, überall Augen und Ohren. Doch für den Moment war sie in Sicherheit. Jetzt, wo sie in der stillen Kirche saß, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie nicht länger voller Panik und Todesangst war wie in den letzten zweieinhalb Wochen. Jetzt war sie lediglich wachsam. Sie musterte jeden Menschen, an dem sie tagsüber vorbei
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