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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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selbstsicher, aber tief in ihm – doch das wussten wir damals selbstverständlich nicht – breiteten sich stille Träume aus wie ein weiter See, und am Ufer erwartete ihn ein Kahn.

Zwei
    Wir hätten es schon ganz gut gefunden, eine Erklärung oder Erklärungen für die gewaltige Veränderung, ja, diesen Persönlichkeitswandel des Fabrikleiters zubekommen. Denn er fuhr in die Stadt und kam völlig verändert zurück, als ein Mann, der dem Himmel näher war als der Erde. Ja, er kam aus dem Süden zurück und brabbelte Latein, was uns zunächst Sand in die Augen streute, wir bemerkten seine Verwandlung anfangs nicht, er fuhr ja auch noch den Range Rover, die Kleidung sah allerdings schon ein wenig vernachlässigt aus, seine Stimme klang leiser, die Bewegungen waren langsamer und außerdem schien er neue Augen bekommen zu haben. Der unbeirrbar feste Blick war verschwunden und etwas anderes an seine Stelle getreten, für das wir keinen Namen hatten, vielleicht Geistesabwesenheit oder Verträumtheit, zugleich aber machte es den Eindruck, als würde er alles durchschauen, das ganze Theater, das Gerede und den Lärm, die unser Leben kennzeichnen, Sorgen um Übergewicht, Geld, Falten, Politik oder die Frisur. Vielleicht hätten wir alle in die Stadt fahren sollen, um Latein zu lernen und diesen neuen Blick, dann hätte unser Ort wahrscheinlich abgehoben und wäre in den Himmel geschwebt. Aber natürlich fuhren wir nicht, du weißt, wie das ist, jeder steckt im Sumpf seiner Gewohnheiten unverrückbar fest. Und genau die, diese monotone Ansagerinnenstimme des Alltags, gewöhnte uns sehr schnell an die neuen Augen, an die hudeligen Klamotten, das andere Auftreten. Die Menschen verändern sich doch sowieso andauernd, entwickeln neue Interessen, färben sich die Haare, gehen fremd oder geben für immer den Löffel ab; völlig aussichtslos, da stets auf dem Laufenden zu bleiben, und außerdem haben wir genug damit zu tun, das Summen im eigenen Kopf wahrzunehmen. Ein gutes Jahr nach dem Lateinkurs des Fabrikchefs traf in der Post eine Sendung aus dem Ausland ein, ein Paket mit der Aufschrift »Vorsicht« in neun Sprachen. Agüsta, die einzige Postangestellte, war so beeindruckt, dass sie die Verpackung nicht zu öffnen wagte, und wir mussten also etliche Tage warten, bis wir erfuhren, was es enthielt. Wie du dir vorstellen kannst, wurde heftig spekuliert, und es kursierten verschiedene Theorien, die sich aber alle als abwegig herausstellten, denn in dem Paket befand sich nichts weiter als ein Buch, immerhin ein altes und weltberühmtes: Sidereus nuncius oder Sternenbotschaft von Galileo Galilei. Es handelte sich um die Erstausgabe, was ja nicht wenig heißt, denn das Werk ist vor gut 400 Jahren erschienen, auf Latein, und an einer Stelle heißt es:
    »Ich ließ irdische Erwägungen fahren und wandte mich Himmlischem zu.«
    Besser kann man die Veränderungen unseres Fabrikleiters nicht beschreiben, den alle, nachdem der Inhalt des Pakets erst bekannt geworden war, nach einem alten, vor vielen Jahren gestorbenen Sonderling nur noch den Astronomen nannten. Ursprünglich natürlich als Spottname gedacht, setzte sich die Bezeichnung sogleich durch, und ebenso rasch verlor sich der Spott. Es war seine Frau, die uns von dem Buch erzählte, es schien ihr ein wirkliches Anliegen zu sein, so viel wie möglich über die Veränderungen ihres Mannes mitzuteilen, und du darfst uns glauben, dass viele bereit waren, ihr zuzuhören. Oft benutzte sie schwarzen Lippenstift, wenn du sie nur hättest sehen können in ihrem grünen Pullover, dermaßen schön und so sexy, sie kam in unseren Träumen vor, und manch einer wie zum Beispiel Simmi, der mittlerweile auf die fünfzig zuging, Junggeselle und totaler Pferdenarr, besaß ein Dutzend Pferde, war völlig hin und weg von ihr und erwog schon, aus der Gegend fortzuziehen, um anderswo sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er ritt jeden Morgen aus und nicht selten an ihrem Haus vorüber in der Hoffnung, wenigstens einen ganz kurzen Blick auf sie werfen zu können. Eines Tages sattelte Simmi seinen Rappen, ritt los und sah, wie sie aus dem Haus gerannt kam.
    Erst schlug er einen großen Bogen, um ihr dann geradewegs entgegenreiten zu können, und sie begegneten sich, sie mit diesen schwarzen Lippen, diesem fein geschnittenen Gesicht, den roten Haaren, der Nase wie eine Träne, die Augen so blau, und unter ihrem flatternden Anorak trug sie den grünen Pullover – eine Schönheit, eine Offenbarung, und
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